Erste Corona-Impfbilanz der Hausärzte: „Mit Wucht losgegangen“
Es sei höchste Zeit, dass Hausärzte impfen, sagt Berlin-Brandenburgs Ärzteverbandschef Wolfgang Kreischer. Aber die Priorisierung sei zu starr.
taz: Herr Kreischer, seit Dienstag dürfen die Hausarztpraxen impfen. Was bekommen Sie als Vorsitzender des Verbandes für ein Feedback?
Wolfgang Kreischer: Es ist mit Wucht losgegangen. Die Termine sind voll, wir haben schon sehr viel geschafft und die Patienten sind extrem dankbar. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir impfen dürfen.
Nach was für Kriterien gehen Sie vor?
Es ist ein großes Verhandeln mit den Patienten, weil natürlich alle vorgezogen werden wollen. Wir sind von der Impfkommission aufgefordert, nach der Priorisierung vorzugehen, aber in der Praxis müssen wir das individuell auch mal lockern. Diese Freiheit nehmen wir uns einfach raus.
Wie sieht das aus?
Ich habe hier in meiner Praxis in Zehlendorf ältere Herrschaften, die leben seit Jahren zurückgezogen in ihrer Villa und haben keine Außenkontakte. Diese Patienten vorzuziehen, wäre albern. Da impfe ich lieber eine Verkäuferin von Rewe.
Sie folgen mehr Ihrem Sachverstand als den staatlichen Vorgaben?
Diese Priorisierung muss nach und nach aufgegeben werden, sie ist viel zu starr. Dazu brauchen wir natürlich auch viel mehr Impfstoff. Wir haben einen viel besseren Blick auf die Patienten. Wir können das individuelle Risiko viel besser abschätzen. Wir müssen ja nicht nur die persönlichen Krankheiten sehen, sondern auch die Krankheiten im Umfeld, die Kontakte und das Berufliche.
Wolfgang Kreischer,
70, ist Vorsitzender des Hausärzte-Verbandes Berlin-Brandenburg, dem rund 1.000 Mitglieder angehören. Seine Praxis ist in Zehlendorf.
Wie viele Dosen bekommen Praxen wie Ihre zurzeit pro Woche?
Wir bekommen 20 Dosen Biontech und 20 AstraZeneca. Wir wussten gar nicht, dass wir beide bekommen. Wir haben mit Biontech angefangen und auch am Samstag Impftermine, weil das immer Ende der Woche verbraucht sein muss.
Gibt es Probleme, den Impfstoff loszuwerden?
Überhaupt nicht. Nur organisatorisch ist das ein Wahnsinn. Das ist ein Gau. Von meinem Personal habe ich jetzt eine Kraft abgestellt, die nur telefoniert und Impftermine vergibt. Wir müssen unsere Patienten anrufen, andere wiederum rufen uns an, denen muss man erklären, dass es noch nicht soweit ist. Das hören wir aus allen Praxen, absolut.
Wollen Leute weiterhin AstraZeneca haben?
Es ist eine Vorsicht zu spüren. Alle stürzen sich auf Biontech. Aber die meisten vertrauen dem Hausarzt: Was Sie mir empfehlen, lasse ich mir spritzen, heißt es.
Was passiert, wenn abends noch was übrig ist?
Wir bestellen immer Sechser-Grüppchen zum Impfen, dann ist ein Fläschchen leer. Aber wir haben auch immer Leute auf Halde, die schnell einspringen können.
Rechnen Sie bald mit mehr Impfstoff?
Ich bin da eher skeptisch. Wenn ein Gesundheitsminister Jens Spahn jetzt plötzlich Sputnik haben will und andere wiederum sagen, Sputnik muss erst zugelassen werden – das sind doch hilflose Versuche, den Impfstoff zu vermehren. Oder dass erst noch neue Fabriken aufgebaut werden müssen. Wo leben wir denn?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren