: Ermittler forschen im Kasernenkeller
Staatsanwaltschaft geht Verdacht der wiederholten „Misshandlung“ von Rekruten bei simulierten Geiselnahmen nach. Bundeswehr suspendiert 18 Ausbilder aus Coesfeld vom Dienst. Kommandeur: Menschen wurden zu Objekten degradiert
VON ASTRID GEISLER
Um Verteidigung ist das Heerestruppenkommando in Koblenz nicht mal bemüht: „Solche Aktivitäten haben mit dem Lehrplan und der Grundausbildung der Bundeswehr nichts zu tun“, sagte Sprecher Withold Pieta gestern. Von einer „Übung“ wolle er gar nicht reden. Was sich laut Zeugenaussagen zwischen Juni und September in der Freiherr-vom-Stein-Kaserne im nordrhein-westfälischen Coesfeld abspielte, erinnert an die Folterszenen aus dem irakischen Abu-Graibh-Gefängnis – und löste bei der Bundeswehrführung die höchste Alarmstufe aus: „Die gesamte Rechtsordnung ist geschädigt worden, Menschen wurden Objekte“, warnte Heerestruppenkommandeur Ernst Heinrich Lutz im Spiegel.
Bereits seit einigen Wochen ermittelt die Staatsanwaltschaft Münster gegen 17 Unteroffiziere und einen Hauptmann der Bundeswehr wegen „Misshandlung“ und „entwürdigender Behandlung von Untergebenen“. Nach Spiegel-Informationen sollen die Ausbilder mit Wehrpflichtigen während der Grundausbildung viermal das Szenario einer Geiselnahme durch arabische Terroristen simuliert haben. Die als „Geiselbefragung“ bezeichnete „Übung“ lief demnach so ab: Während Nachtmärschen wurden die Rekruten in einen Hinterhalt gelockt, überfallen, mit Kabelbinder gefesselt und mit Stiefelbeuteln über dem Kopf auf einem Lastwagen in die Kaserne gekarrt. Dort wurden die jungen Männer laut dem Bericht von Vorgesetzten systematisch misshandelt. Sie hätten sich vor eine Wand knien und mit Wasser bespritzen lassen müssen. Zwei Wehrpflichtigen seien über die Kabel eines Feldfernsprechers Stromstöße im Hals-, Leisten- und Bauchbereich verpasst worden. Außerdem gebe es Hinweise darauf, dass einige der Torturen gefilmt und fotografiert wurden. Laut Spiegel zeigt eine der Aufnahmen einen Soldaten mit nacktem Unterleib.
Zu Details der Vorwürfe wollte sich Bundeswehrsprecher Pieta gegenüber der taz nicht äußern. Er begründete dies mit den laufenden Ermittlungen. Die Bundeswehr hat parallel zur Staatsanwaltschaft eigene Disziplinarverfahren eingeleitet. „Dem wird gnadenlos nachgegangen“, versicherte Pieta. Die Menschenwürde dürfe in der Bundeswehrausbildung unter keinen Umständen verletzt werden. Alle Beschuldigten sind vom Dienst suspendiert. Ihnen drohen nach dem Wehrstrafgesetz bis zu fünf Jahre Haft.
Die Vorfälle in der Coesfelder Kaserne kamen offenbar nur zufällig ans Licht. So erstattete ein Vorgesetzter Anzeige, nachdem ein Rekrut ihm beiläufig von der „Übung“ erzählt hatte. Warum keiner der rund 80 betroffenen Wehrpflichtigen protestierte, dafür kann man beim Heerestruppenkommando keine Antwort bieten. Ebenso unklar bleibt, warum kein Ausbilder gegen die „Übung“ einschritt.
Gerade angesichts der hohen Zahl der Beschuldigten seien die Berichte „äußerst beunruhigend“, urteilte Grünen-Wehrexperte Winfried Nachtwei. Sollten sich die Zeugenaussagen als richtig erweisen, sprenge der Skandal den „bisherigen Rahmen von Schikanen und Fehlverhalten“ bei der Bundeswehr.
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