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Erm! Ural! Ordeina! Oruska! ■ Von Kathrin Passig
Wenn man ein eintöniges Leben aus Schlafen, Duschen und Keine-Zeit-zum-Fernsehen führt und die Freunde alle genauso wenig zu erzählen haben, hilft es, wenn sie wenigstens unterhaltsame Funktionsstörungen vorweisen können. Wer einen Diabetiker zum Freund hat, braucht kein Fernsehen. Wenn sein Blutzuckerspiegel in die roten Zahlen absinkt, führt mein Freund Peter heidnische Tänze auf, verspottet abendländische Werte und unternimmt den ehrgeizigen Versuch, auf seinem Kopf zu sitzen. Er lebt in Kreuzberg, da fällt das nicht so auf und entgeht auch mir meist, bis er anfängt, Stücke aus meinem Schreibtisch zu beißen. Dann hilft nur ein Exorzismus unter gewaltsamem Einflößen geweihten Traubenzuckers.
Als es mir nicht gelingt, ihn durch geduldiges Klingeln aus dem Bett zu locken, obwohl ich weiß, dass er da ist, rufe ich ihn aus der Firma an. Nachdem ich meine Klage über den vergeblichen Besuch etwa dreimal wiederholt habe und er nur mit „Ach ja“ und „Hm“ antwortet, wird mir klar, dass seine intellektuellen Funktionen zu Wartungsarbeiten vom Netz genommen sind, und ich beginne mitzuschreiben, damit er wenigstens später mal nachlesen kann, worüber wir geredet haben. Peter: „Erm! Ural! Ordeina! Oruska!“ Ich: „Was?“ Peter: „Erm! Ural! Ordeina! Oruska!“ Ich: „Hm?“ Peter: „Hast du den Zettel nicht gelesen?“ Ich: „Welchen Zettel denn?“ Peter: „Na, den auf dem Küchentisch.“ Wir teilen mitnichten die Wohnung, geschweige denn den Küchentisch, aber auch das scheint ihm temporär entfallen. Auf meine Frage, wann ich diesen Zettel hätte sehen sollen, kontert er geschickt mit: „Wann bin ich denn heute aufgestanden?“ Ich: „Weiß ich doch nicht.“ Peter: „Ja, wozu, glaubst du, hab ich denn den Zettel geschrieben?“ Um seine Reaktionen zu testen, lese ich ihm den bisherigen Verlauf der Konversation vor. Er lässt sich nicht beeindrucken: „Ja, warum meinst du denn stehen die wachen Leute auf?“ Ich: „Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.“ Peter: „Ach, dass ihr Weiber immer so kompliziert seid.“ Ich: „Weißt du, wo der Traubenzucker ist?“ Peter: „Ich brauch keinen Traubenzucker, ich bin nicht im Geringsten hypoglykämisch, ich bin kerngesund ... Hast du mich eigentlich angerufen oder ich dich?“ Peters Kommunikationsgewohnheiten sind auch in gesundem Zustand, gelinde gesagt, eigenwillig. Weil es durchaus sein könnte, dass er im Verlauf der Unterhaltung genesen ist, frage ich ihn, was ich eigentlich wissen will: „Gehst du heute mit Harald zum Trinken?“ Peter: „Wer ist Harald?“ Ich: „Na, Harald ... mit dem du heute Trinken gehst. Heute ist Mittwoch.“ Peter: „Mittwoch? Heute ist ein ganz normaler Mittwoch? Es ist fünfzehn Uhr dreißig, und ich muss arbeiten gehen?“ Ein böses Erwachen. Gut, dass er es gleich wieder vergessen wird. „Ja.“ Peter: „Ich war fest davon überzeugt, dass heute Wochenende ist! Warum ruft mich keiner an?“
Ich freu mich schon aufs Seniorenheim. Dort hat man noch mehr lustige Freunde und endlich genug Zeit zum Fernsehen.Wenn man ein eintöniges Leben aus Schlafen, Duschen und Keine-Zeit-zum-Fernsehen führt und die Freunde alle genauso wenig zu erzählen haben, hilft es, wenn sie wenigstens unterhaltsame Funktionsstörungen vorweisen können.
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