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■ Erich Mielke, der Polizistenmord und Dora ZimmermannL'affaire d'un seul...

Von einem Jahrhundertprozeß konnte keine Rede sein im Moabiter Landgericht, aber Thema war genau das: dieses in vieler Hinsicht furchterregend deutsche Jahrhundert mit seiner jugendbewegten Revolutionsromantik und seiner Fortschrittsgläubigkeit; diese Epoche der völkischen wie der sozialen Alternativen, der Gegnervernichtung und Massengräber, der Utopien einer besseren, neu geordneten Welt. Unbeholfen und – wie auch anders – ängstlich wichen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger, jeder auf seine Weise, vor dem Abgrund zurück.

Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung führten Erich Mielke und Erich Ziemer den Mord an den Polizeioffizieren Franz Lenk und Paul Anlauf 1931 aus und flüchteten danach in die Sowjetunion. Dort schrieb Mielke in seinen Lebenslauf: „Als letzte Arbeit erledigten noch ein Genosse und ich die Bülowplatz-Sache.“ Und: Er habe „die Sache am Bülowplatz bereinigt“. Früh also benutzte der spätere DDR-Machthaber jene aseptische Metaphorik, die rückblickend als Signatur des Jahrhunderts bezeichnet werden muß: Mord als „Sache“, als „Arbeit“, die im Namen großer Ziele „erledigt“ oder „bereinigt“ wird. „Im Endeffekt sollte dieses System von Sprachregelungen“, so notierte Hannah Arendt am Beispiel Eichmann, „die Vernichtungsexperten nicht etwa blind machen für die Natur ihrer Tätigkeit, wohl aber verhindern, daß sie sie mit ihren alten, ,normalen‘ Vorstellungen von Mord und Lüge gleichsetzten.“

Die Verteidigung Mielkes dominierte der Westberliner Rechtsanwalt Stefan König. Zum Glück für den Angeklagten wie für das Publikum. Ob man seine Argumente teilte oder nicht, allein das Zuhören bereitete Vergnügen. Nur einmal glitt König in seinem Schlußvortrag aus. Als er die unstimmigen Ortsangaben in der schriftlich überlieferten Aussage des Belastungszeugen Broll zerpflückte, da formulierte König so: Broll habe den tödlichen Anschlag auf die beiden Polizisten unmöglich sehen können, denn der „ereignete sich erst, als die schon – im wahrsten Sinne des Wortes, wenig später – um die Ecke waren“.

Die Nebenklägerin

König gegenüber saß die Nebenklägerin, die 73jährige Ostberlinerin Dora Zimmermann, die einzige noch lebende Tochter Anlaufs. Nachdem ihre Mutter im Juli gestorben war, hatte sie die politisch motivierte Ermordung des Vaters am 9. August 1931 zum Waisenkind gemacht. Das Berliner Tageblatt berichtete tags darauf: „Nach der Schießerei am Bülowplatz kam das elfjährige Töchterchen, das sich allein in der Wohnung befand, zum Polizeirevier und erkundigte sich nach seinem Vater. Keiner der Polizeileute hatte den Mut, dem Mädchen vom Tod des Vaters zu erzählen.“

Die Tat ereignet sich an einem heißen Sonntagabend, auf dem Berliner Bülowplatz im Dreieck zwischen Freier Volksbühne, Karl- Liebknecht-Haus und Kino Babylon. Es war die Zeit der Depression. „,Nieder mit der Regierung! Gebt uns Arbeit und Brot...‘, riefen wir damals“, berichtete Arnold Munter, der letzte noch lebende Tatzeuge in der Hauptverhandlung, und verschwieg, was sich für einen Sozialdemokraten von damals heute wohl gehört, wie auch er den Vers zu Ende skandiert haben wird: „...sonst schlagen wir euch tot!“ In den Tagen zuvor waren drei Demonstranten von der Polizei erschossen worden. Die Verteidigung betonte dies immer wieder. Doch unterschlug sie – dank träger Anklagevertreter unwidersprochen –, daß unmittelbar vor dieser Eskalation die Polizisten Kuhfeld und Fiebig Opfer „planmäßig vorbereiteter“ und von „der gleichen (kommunistischen) Terrorgruppe“ ausgeführter Anschläge geworden waren. In beiden Fällen glich der Tathergang den Morden vom 9. August. So jedenfalls sah es der starke Mann im Berliner Polizeipräsidium, der durch und durch republikanisch gesonnene Vizepräsident Bernhard Weiss. Gegen ihn hatte Josef Goebbels eine exemplarische Kampagne entfacht, schmähte ihn bei jeder Gelegenheit als Juden „Isidor“. „Sozialfaschist“ war der derselbe Mann für Walter Ulbricht, dem politischen Gegenüber Goebbels' im damaligen Berlin.

Proletarischer Wehrsport

Mielke gehörte dem illegalen Parteiselbstschutz an: dem PSS. Die klandestinen Aktivisten glaubten an die unmittelbar bevorstehende proletarische Revolution. „Bis bald in Sowjetdeutschland“, grüßten sie einander, übten den bewaffneten Aufstand, betrieben „proletarischen Wehrsport“ und „Vergeltung“. In diesem Kreis organisierten etwa 20 Personen die Bluttat vom 9. August.

Sie entsprang nicht ultralinkem „sektiererischem Abenteurertum“, wie die spätere SED-Geschichtsschreibung weismachen wollte. Sie stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem ursprünglich vom rechten Lager angestrengten und schließlich von der KPD massiv unterstützten Volksentscheid zum Sturz der preußischen Regierung Braun/Severing, der letzten demokratischen Bastion im Deutschland der Notverordnungen. Der Volksentscheid, der an eben diesem 9. August abgestimmt wurde, endete mit einer deutlichen Niederlage der unheilig alliierten Antirepublikaner Hitler, Hugenberg und Thälmann und wurde doch zum Pyrrhussieg für die Verteidiger der Republik. Die Folgen sind bekannt.

Am 15. August 1931 sandte Heinz Neumann (ZK der KPD) an Wilhelm Pieck (EK der Komintern in Moskau) einen Bericht über die erste Politbürositzung nach den Bülowplatzmorden. Der Brief wird im Moskauer Kominternarchiv verwahrt und war als alltäglicher Geschäftsbrief verschlüsselt und wurde in Moskau handschriftlich – hier in Klammern angegeben – dechiffriert: „Die Besprechung mit meinem Bruder (Politbüro) nahm einen durchaus befriedigenden Verlauf. Auch Euer (unser) Freund Emil (Thälmann) war ebenfalls dabei und ist durchaus guter Laune. Kuno (Ulbricht) hat sich etwas ungeschickt ausgedrückt in der Sache, über die wir mal am letzten Tage gesprochen haben. Wir hatten da sehr interessante Rücksprachen mit einigen Leuten von den beiden Aufsichtsräten (Regierungen [Preußens und des Reichs]). Auch eine mit der Generalvertretung (Polizeipräsidium). Haben die die Hosen voll. Naja, das ist ja auch erklärlich bei der ganzen Wirtschaftslage. Bei uns floriert's dagegen immer noch ganz gut, und es ist so gut wie sicher, daß auch die Konjunktur anhält. Die Generalvertretung (Polizei) werden wir jetzt etwas schonender behandeln.“

Der geistige Zustand der damaligen KPD-Führung spottet jeder Vorstellungskraft. Hasardeure, die sich „Politbüro“ nannten, angeführt von Thälmann, Pieck und Ulbricht, hatten Mielke und Ziemer als Werkzeuge eingesetzt. Bislang sind nur einige Zipfel der Wahrheit sichtbar. Aber soviel steht seit einer ersten Visite des Autors in den Moskauer Archiven fest: Es werden dort noch Dokumente ans Licht kommen, von denen selbst die kältesten antikommunistischen Krieger nicht zu träumen wagten.

Im selben Gerichtssaal 700, wo nun das durchaus faire Strafverfahren gegen den letzten noch lebenden Tatbeteiligten, Erich Mielke, zu Ende ging, hatte 1934 der erste Bülowplatzprozeß stattgefunden. Das ersichtlich nazifizierte Gericht stützte sich damals auf Aussagen, die SA, Kripo und Gestapo per Folter abgepreßt hatten, und verhängte drei Todesurteile wegen Beihilfe: Max Matern starb 1935 unter dem Handbeil des Henkers von Plötzensee; Fritz Bröde erhängte sich im Zuchthaus am Riemen seines Holzbeins; Michael Klause wurde zunächst von Hitler zu lebenslanger Haft begnadigt und 1942 – unter dem Motto „Keine Revolutionäre konservieren“ – dann doch guillotiniert.

Tote und Entronnene

Ziemer und Mielke wurden 1936 Politkommissare in Spanien. An der Ebrofront, 1937, verbrannte Ziemer in seinem Tank. Die Organisatoren der Morde, Heinz Neumann und der Chef des Militärpolitischen Apparats, Hans Kippenberger, starben 1937/38 per Genickschuß in der Lubjanka. Pieck und Ulbricht hatten zu ihrer Verhaftung beigetragen. Thea Kippenberger, die den Bülowplatztätern bei der Flucht geholfen haben soll, war 1933 ebenfalls ins Moskauer Exil geflohen, wurde per Sippenhaft festgenommen und deportiert: 1940 kam sie im Gulag um. Die Kinder der Kippenbergers, die 12jährige Margot und die 4jährige Jeannette, steckte man in ein „Heim für Kinder von Feinden des Volkes“. Sie leben heute als Rentnerinnen in Berlin. Erst durch die Recherchen in Moskau erfuhren die Töchter, wann und wo ihre Mutter zu Tode gebracht worden war. In den Akten liegen auch Briefe, die Margot 1938 geschrieben und die Adressatin nie erreicht hatten: „Liebe Lotte! Ich schreibe Dir jetzt, weil ich wissen will, was mit Mutti los ist? Die schreibt Dir doch bestimmt. Was ist denn los? Lotte, antworte mir schnell.“

Trotzig und bis zuletzt bestritt Erich Mielke die Tat, aufgrund derer ihn das Gericht gestern wegen Mordes verurteilte. Strafhaft bezweckt nicht nur Sühne, sondern auch Läuterung und Umkehr: in diesem Fall, das sei zugegeben, ein etwas schwieriges Unterfangen. Doch mindestens einmal schon veränderten sich die Stimme und Tonlage des Erich Mielke. Leicht zitternd hatte er im letzten Mai der Berliner B.Z. gesagt: „Da sind Millionen gefallen – für nichts. Für nichts. Alles, wofür wir gekämpft haben – in nichts hat es sich aufgelöst.“ Ja – aber noch viel mehr Menschen haben nicht „gekämpft, sind nicht „gefallen“ und starben dennoch einen elenden, gewaltsamen Tod. Fast nebenbei, für sie kaum der Rede wert, vernichteten die selbsternannten Kämpfer im Namen eines jäh verpufften „Wir“ das Leben oder zumindest das Glück vieler Zehnmillionen Einzelner. Tote können nicht anklagen. Für sie stehen die Entronnenen, steht Dora Zimmermann, stehen Jeannette und Margot Kippenberger. L'affaire d'un seul est l'affaire de tous. Götz Aly

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