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Erfurt ist nicht Seattle...

...und doch setzen die neuen Ostbands auf den internationalen Standard. Moralfreies statt Stasikellerlyrik – gerne in interpretationsfreundlichem Englisch  ■ Von Steve Körner

Die Hühnerbrust nur notdürftig verhüllt von einem Fetzen T-Shirt, tobt Robert Beckmann über die Bühne. „After all these bad times / we're going to the future“, grölt er – einen Moment später sägt der zerfetzte Geigenbogen über die zerschrammte Fiedel. Die Menge im Saal der restlos ausverkauften „Schorre“ in Halle rast.

So ist es jeden Abend. Während hochgehandelte junge Westbands wie Nationalgalerie oder Rausch im Osten vor dreiviertelleeren Sälen spielen, sind Klubs wie der Dresdner „Starklub“ oder die „Easyschorre“ in Halle ausverkauft, wenn die Band mit dem zungenbrecherischen Namen The Inchtabokatables antritt. Sänger Robert Beckmann ist in Gera, Dessau und Dresden ein Star, dem die Mädchen hinter der Bühne auflauern. Seine von Fans liebevoll „Inchies“ genannte Folkpunk- Truppe hat seit 1991 zwei Platten bei einem kleinen norddeutschen Label herausgebracht, rund 50.000 Exemplare davon verkauft und sich damit an die Spitze der vom (inzwischen verschiedenen) Rockmagazin NMI/Messitsch ermittelten „Beliebtheitsskala Ost“ gespielt.

Stern Meißen geht unter

Dabei sah es lange Zeit so aus, als habe ein kleines bißchen Kapitalismus in wenigen Wochen geschafft, was weder Honeckers SED noch Mielkes Stasi, noch Krenz' Freier Deutscher Jugend gelungen war: Rockmusik kaputtzumachen. Etablierte Kapellen wie City, Silly, Karat oder Pankow traf das Ende der DDR am Lebensnerv.

Die Szene, für staatstragendes Wohlverhalten und Rebellion in Maßen mit Westreisen und Westgeld subventioniert, fiel in sich zusammen. Kapellen wie Rockhaus oder Stern Meißen liefen auseinander, Konzerthallen machten dicht, Veranstalter verabschiedeten sich. Ostmusiker gründeten Plattenfirmen wie City-Chef Toni Krahl, sie wurden Hoteliers wie Karussell-Anführer Wolf-Rüdiger Raschke oder retteten sich in ABM-Stellen in der Jugendarbeit wie Passion-Sänger Karsten Knabe. Der Osten war tot, und er sollte es für lange bleiben.

Doch weitgehend unbemerkt von den in Hamburg, München und Köln ansässigen großen deutschen Musikmagazinen hat sich die Szene längst wieder aufgerappelt. Bands wie Inchtabokatables, Bobo In White Wooden Houses, Keimzeit oder Das Auge Gottes gehören zur jungen Garde des Ostrock, der kein Ostrock mehr sein will.

Das Publikum dieser Bands ist denn auch nicht das diverser „Ostivals“, auf denen DDR-Altrocker wie Karat oder Lift noch einmal ein schwiemeliges Ach-damals- war-es-doch-auch-nicht-soo- schlecht-Gefühl beschwören. City- Gitarrist Fritz Puppel, mit Sänger Toni Krahl Inhaber des Plattenlabels K & P Music, hält die immer wieder gern geschriebene Geschichte von den schon vergessen geglaubten DDR-Bands, die vier Jahre nach der Wende plötzlich wieder vom Publikum entdeckt werden, ohnehin für ein Mißverständnis: „Es reicht nicht, über irgendeine Band ,Ostival‘ drüberzuschreiben, und schon ist sie erfolgreich.“ Vom vielbeschworenen „Ostrock-Revival“ mag er nichts hören: „Mit Jammerveranstaltungen nach dem Motto ,Wir wollen die DDR wiederhaben‘ lockst du keinen hinterm Ofen hervor – was die Leute interessiert, ist die Musik.“ Und von der gebe es immer noch „nur zwei Arten: gute und schlechte“.

Die Inchtabokatables sind das beste Beispiel für diesen antinostalgischen, antiideologischen Angriff. Erst nach 1989 gegründet, singen sie nicht von damals – und nur gelegentlich auf deutsch; ihre Musik aber hat trotz gediegener Ausbildung an diversen Hochschulen nichts mit der alten DDRock-Schule zu tun. Die Band kommt aus dem Osten, natürlich – „aber“, ist sich Puppel sicher: „wenn ich's nicht wüßte, ich würd's nicht hören“.

Aus der Schule der Skeptiker

Auch wenn die legendären Puhdys anläßlich ihres 25jährigen Bandjubiläums wieder auf Tour sind und begeistert gefeiert werden: Sie sind für Resistance aus Dresden, Anger 77 aus Erfurt und Dritte Wahl aus Rostock etwa so beispielgebend wie die Lords für die Fantastischen Vier. Stilprägend für die Szene im Osten sind längst andere, jüngere Bands, die „gar nicht DDR-Nostalgie sein können, weil es sie zu DDR-Zeiten noch gar nicht gab“, wie Toni Krahl erklärt.

Die Berliner Skeptiker spielen den harten, geraden Punk der Dead Kennedys, Subway To Sally experimentieren wie die Inchtabokatables mit einer Art Mittelalter- Punk, Sandow dröhnen wie eine jugendliche Ausgabe der Einstürzenden Neubauten. Die Zöllner pflegen eine Art Großstadt-Soul, Herbst in Peking vermischen Anarcho-Posen und Neil-Young-Zitate, und die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot beantwortet Jimi Hendrix' zerfetzte Version der US-Hymne mit einer ebenso grandios gemeuchelten Sowjet-Hymne. Der deutsche Osten, das klassische Land einer Rockmusik aus gereimten Moralismen auf dem Weg in die deutsch-internationale Pop-Normalität. Wie BAP will keiner mehr klingen.

Die meisten der neuen Bands, die sich mit Vorliebe düstere Namen wie Love Is Colder Then Dead, Happy Cadavers oder Need A New Drug gegeben haben, verzichten ganz auf die früher so beliebten belehrenden Textfloskeln. Statt dessen heißt es bei den Schweriner Heavy-Hip-Hoppern Das Auge Gottes lapidar: „Und morgen / ist vergessen / und vorbei was mal war / und morgen / hält kein Traum / was er verspricht.“

Natürlich ist in Wirklichkeit noch gar nichts vorbei. Aber untergehende Stämme haben die schönsten Melodien. Keimzeit, mit mehr als 100.000 verkauften Platten die neuen Leitfiguren der Szene, nölen auf einen schlingernden Bluesbeat „Zwei plus zwei ist zweiundzwanzig / Wenn Du es glaubst / dann gib mir Bescheid“, und das Berliner Noise- & Painting Duo Herr Blum reimt lautmalerisch: „Die Frage / ist die Antwort / ist die Frage / ist“.

Wenn man singen kann, was man will, sind Texte nicht mehr die entscheidende Frage. „Mir geht es um Musik“, glaubt Bobolina, Sängerin bei Bobo In White Wooden Houses. Sie fühle sich einfach nicht berufen, ihrem Publikum die Welt zu erklären, so die 24jährige Pfarrerstochter, die in Gera Gesang studierte, ehe sie mit ihren kleinen Popsongs über Träume, Reisen und Kindheitserinnerungen über Nacht zum Lieblingstitelbild der westdeutschen Poppresse avancierte.

Demoband auf Demoband

Ohne solche Wahrnehmung aus dem Westen geht es nicht – zumindest nicht auf größerer Ebene. Der Erfolg der Leipziger Prinzen ist nicht vorstellbar ohne die Schützenhilfe der Ex-Ideal-Sängerin Anete Humpe; Bands wie Bobo, Inchtabokatables oder die Happy Cadavres wären ohne Plattenverträge mit altbundesdeutschen Firmen wahrscheinlich bis heute nicht aus dem Probekeller gekommen. Denn die existierenden Ost-Plattenfirmen kann man nach dem Exitus der ehemaligen Staatsfirma Amiga/Deutsche Schallplatten an zwei Fingern abzählen – neben K&P Music, der City-Firma, existiert als einziges reines Ost-Unternehmen der „Buschfunk“ des Berliner Verlegers Klaus Koch. Der hat mit seinen bislang zwei Dutzend Plattenproduktionen zwar „bis heute leider keinen Pfennig verdient, weil wir alles gleich wieder in die Firma stecken müssen“, bietet wichtigen Ost-Künstlern wie dem „Dylan der Tagebaue“ Gerhard Gundermann oder dem Liedermacher Gerhard Schöne aber die einzige Alternative zum Gang in den Westen, wo sich mancher Ostkünstler – so ist das immer noch – einfach nicht verstanden fühlt. „Die haben uns überall reingeredet“, schildert Subway-To-Sally- Chef Simon seine Erfahrungen, „und wenn wir uns nicht dran gehalten haben, haben sie's hinter unserem Rücken so gemacht, wie sie wollten.“

Musikalisch ist zwischen Rostock und Suhl zwar mittlerweile alles möglich – Punk, Gitarrenrock, Pop wie Hardcore –, doch es fehlt an der Infrastruktur, die Kreativität umzusetzen. „Wir haben Demoband auf Demoband eingespielt“, erzählt Anger-77- Manager Colt, „aber wo sollen wir sie hinschicken?“

Eine gewisse West-Arroganz

Es ist im Osten im Moment immer noch schwieriger, sich durchzusetzen – bei den Plattenfirmen im Westen hat auch die jüngere Genera

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tion einen schweren Stand. „Dort sitzen irgendwelche Figuren in ihren Bunkern“, urteilt Westrocker Heinz Rudolf Kunze drastisch, „die haben noch nie einen Ostklub von innen gesehen.“ Kunze, der vergeblich versucht hatte, die neue Platte des Sängers Tino Eisbrenner bei verschiedenen Major-Firmen unterzubringen, erkennt darin „eine gewisse West-Arroganz guter Ost-Musik gegenüber“. Kunze ist sicher: „Käme ein Mann wie Eisbrenner aus Köln, würden sie ihm den Vertrag hinterherschmeißen.“

Nicht nur bei Toni Krahl, der während eines einzigen Konzerts schon mal drei Dutzend Demos zugesteckt bekommt, sondern auch bei den Veranstaltern stapeln sich die Tapes. „Aber“, beschreibt Dirk Götze, Chef der halleschen „Easy-Schorre“, seinen Zwiespalt, „wenn die Band keine Platte draußen hat, kommt auch keiner zum Konzert.“ Das Publikum hat wenig Geld – „die Leute schauen sehr genau hin, wen sie sich anhören“, meint Booker Götze. Ohne Plattenfirmen keine Platten, ohne Platten keine Konzerttermine, ohne Konzerte keine Platten. „Du mußt ganz schön überzeugt von dir selber sein, um trotzdem noch weiterzumachen“, winkt Anger-Sänger „Sigi“ Siegmund ab.

Zumal auch sonst nirgendwo Hilfe zu bekommen ist. Städte wie Naumburg, das seinem Rocknachwuchs Proberäume und ein funktionierendes Studio zur Verfügung stellt, oder Magdeburg, das einer Musikerinitiative ein Haus zum Ausbau übergab, sind die Ausnahme. „Die Regel ist, daß die paar Mark, die da sind, als großer Batzen in die Hochkultur gehen“, beschreibt Jens Krüger von der Ostsektion des Deutschen Rockmusikerverbandes. Dieselbe Beobachtung machen auch andere. „Rockmusik gilt im Osten immer noch als Schmuddelkultur“, urteilt Fritz Rau, der Nestor der deutschen Konzertveranstalter, „statt rockmusikbegeisterte Jugendliche mit ein paar Mark von der Straße zu holen, finanzieren die Städte eben lieber prestigeträchtige Opernhäuser, um Investoren ein gutes Umfeld zu bieten.“

Dazu kommt die Ignoranz der Medien. „Das ist bei den Zeitungen genau dasselbe wie bei privaten und öffentlich-rechtlichen Radios“, findet Ralf Schietrumpf, der ehemalige Sänger der inzwischen aufgelösten Band Notausgang aus Halle, „die einen schreiben lieber zehnmal über BAP als einmal über uns, die anderen spielen lieber hundertmal Joe Cocker als hundertmal Cocker und einmal 'ne Band aus der Nachbarschaft.“ Schietrumpf und seine Freunde steckten trotzdem Geld in eine Demoproduktion, die alle lokalen Rundfunkstationen bekamen – „aber gesendet wurde das Ding nie“. So fehlt es an allem: „Platz zum Üben, Auftrittsmöglichkeiten und Entwicklungschancen“, urteilt Jens Krüger, „viele Bands werfen nach kurzer Zeit das Handtuch, weil sie einfach nicht weiterkommen“.

Doch was Funktionäre wie er in schwachen Minuten schon für das Ende der Rockmusik zwischen Brandenburg und Sachsen halten, bewerten Betroffene zum Teil auch ganz anders. „Daß du kein Geld verdienst und Schulden machen mußt, und daß du über die Dörfer tingelst, und daß die Plattenfirmen trotzdem keine Ahnung von Musik haben, das gehört alles dazu“, streitet Andreas Siegmund, Sänger bei der Erfurter Band Anger 77, gegen das Klischee vom Ostrocker, der bei erstbester Gelegenheit um Hilfe jammert. Siegmund: „Das ist eben Rock 'n' Roll. Schon immer gewesen.“

Nachdenken über Mutation

Die es auf dem Rock-'n'-Roll-Weg schaffen, haben nur zu sagen, daß sie nichts zu sagen haben. Die Leipziger Think About Mutation dröhnen in der Tradition von Nine Inch Nails oder Ministry, Iron Henning rocken wie Bad Religion, und Gerhard Gundermann, der Baggerfahrer, der nebenbei Lieder macht, wird sich demnächst vielleicht seinen Traum von einer Platte mit neubetexteten Springsteen-Stücken erfüllen. Rajko Lienert, der die Gitarren bei der Erfurter Post-Rave-Band Green Hill bedient, will „eher so ein Gefühl transportieren mit der Musik“. Welches? Nun ja, auch das ist freigestellt. „Sollen die Leute sich doch selber was dabei denken“, empfiehlt er. „Muß man denn immer gleich hören, woher eine Band kommt?“ Green Hill, im Herbst 1989 in einer Soldatenbude der NVA gegründet, wäre es nicht unrecht, bliebe ihre Herkunft unentdeckt. Erfurt ist nicht Seattle.

Bands wie TAM, Green Hill oder die Frankfurter Noise-Rocker Syksy haben wirklich nichts, was irgendeine Art Ost-Patriotismus speisen könnte. Musikalisch eher an auswärtigen Klassikern als an einheimischen Denkmalen orientiert, die Texte in interpretationsfreundlichem Englisch gehalten und kein alter Hit im Repertoire, den „wir damals in den Stasikellern, Hände auf den Rücken gefesselt und so, immer nicht singen durften“ (Inchtabokatables).

Während Keimzeit, die Schmuddelrocker mit der unleugbaren Ost-Herkunft, immer noch nahezu ausschließlich in den neuen Ländern abräumen, profitieren Bobo und Co im Osten vom Ost- Bonus, ohne im Westen unterm Ost-Malus zu leiden. „Bobo verkauft etwa halbe-halbe in Ost und West“, weiß die Plattenfirma. Aber auch die Inchtabokatables können nicht klagen. „Wir waren bisher nur für ein paar Auftritte im Westen“, meint Bandmanager Falco Richter, „aber Platten verkaufen wir zu einem Drittel drüben.“

Vier Jahre nach 1989 beginnen die Grenzen ohnehin zu verschwimmen: Ost-Rocklady Petra Zieger läßt sich von den Musikern des West-Superstars Westernhagen begleiten, Dirk Zöllners Berliner Zöllner werden vom Kölner Edo Zanki produziert, und Ost- Obermelancholiker Norbert Leisegang (Keimzeit) besucht West- Obermelancholiker Sven Regener (Element of Crime) bei Gelegenheit in der Garderobe. Man hat den gleichen Produzenten. Der Mann ist Brite.

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