: Erfundene Tradition
■ betr.: „Kulturdynamik und Selbst inszenierung“, taz vom 4.3. 97
Gerade weil ich mit Werner Schiffauer in seiner Einschätzung der Ausdrucksformen eines sich Gehör verschaffenden Gruppenkulturalismus im sogenannten postnationalen Zeitalter im wesentlichen übereinstimme, scheint es mir wichtig, nicht nur den Blick auf die Inszenierung der Gegenwart und Zukunft zu richten, sondern auch auf die der Vergangenheit. Der Nationalstaat selbst nämlich ist weniger in einer Krise als das Bild, das wir uns von ihm gemacht haben. Der britische Historiker Hobsbawm („Nations and nationalism since 1780: Programme, myth, reality“) spricht im Zusammenhang des Nationalstaats von der Erfindung der Tradition: Staaten entstanden, in seiner Analyse, nicht aufgrund von Nationen, sondern entstehende Staaten mußten sich ihre nationalen Traditionen zwecks Selbstrechtfertigung erst zusammenklauben. Nationalstaaten sind mithin sehr moderne Gebilde und längst nicht die selbstverständlichen staatlichen Organisationsformen, für die sie im öffentlichen Diskurs oft gehalten werden. Die Konsequenz: Ist erst einmal der Mythos des Nationalstaats entlarvt, nehmen sich die Umwälzungen des Postnationalismus weniger radikal aus. Anstatt allenthalben den Umbruch zu beschwören, sollten wir, auch wenn das an unserer historischen Eitelkeit kratzt, Multikulturalismus nicht so sehr als Novum denn als Normalzustand begreifen, der von der Ideologie des Nationalstaats überlagert, jedoch nie wirklich überwunden wurde. Carsten Quell, Toronto, Kanada
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