■ Das säkulare Selbstverständnis Indiens steht auf dem Spiel: Erfolgreiche Generalprobe
Ram Radscha ist im indischen Volksglauben die Bezeichnung für ein Reich, in dem Frieden, Gerechtigkeit und Toleranz herrschen. Sie verweist auf eine mythische Urzeit, als ein König Rama diese Tugenden so rein vorlebte, daß ihn der Volksglaube zu einer Inkarnation des Gottes Vishnu machte. Ein ideales Königreich leuchtet nie heller als in Epochen der Gewalt, der Angst und des Hasses, und so ist es kaum verwunderlich, daß gerade heute die Popularität Rams und seines Reiches groß ist. Das einfache Volk mißt den Schmutz und die Not der Zeit an den mythischen Urbildern. Aber dieses Volk hat nicht nur einen, im Gegensatz zu uns, ungebrochenen Glauben, es besitzt auch, wie wir, die Macht einer (Wahl-)Stimme. Vor 45 Jahren hatten die Gründer des indischen Staates, im Bewußtsein des psychologischen Energiepotentials, das sich in dieser religiös durchtränkten Gesellschaft speichert, Religion als politisches Mobilisierungsinstrument ausgeschlossen und dem Staat eine „säkulare“ Verfassung gegeben. Sie wußten, wovon sie redeten: Die britischen Kolonialherren hatten Religion als Mittel gegen die Unabhängigkeitsbewegung eingesetzt und nicht nur Inder in Muslime und Hindus getrennt, sondern auch das Land, das sie zurückließen, in zwei Staaten gespalten.
Die indische Volkspartei BJP ist die erste Partei, die diesen säkularen Konsens aus Prinzip zurückweist. Ihr eröffnet sich damit mit dem politischen Stimmenpotential auch ein religiöses Energiepotential, das zudem angereichert ist von einem Universum mythischer Bilder und Gestalten, die sich als politische Symbole geradezu anbieten. Der Rückgriff auf die Gestalt Rams erfüllt so zwei Schlüsselfunktionen: Sie ist das religiöse Gefäß, in dem die politische Botschaft übermittelt wird, und sie wirft als Kontra- und als Zielpunkt das Bild einer harmonischen Gesellschaft an den Horizont. Aber es ist nicht diese Verbindung, die das Kalkül der BJP so perfide macht: Sie braucht einen sozialen und geschichtlichen Kontext und hat ihn in der Fixierung der Geburtsstätte Rams gefunden, die unter einer von den muslimischen Eroberern errichteten Moschee liegt. Damit hat die politische Botschaft nicht nur ein religiöses Gewand und Ziel, sondern auch einen hautnahen Gegenstand, der einen Schatten auf die dunkle Gegenwart wirft und den Blick auf Ram Raducha behindert: den Andersgläubigen, den Muslim, der für das Böse im Hier und Jetzt verantwortlich ist. Es ist ein Szenario, das am letzten Sonntag eine erste, und dazu gespenstisch erfolgreiche, Generalprobe erhielt. Daß das Bild des gerechten Gottkönigs Ram und seiner gerechten Herrschaft dabei unter die Räder gerät, ist einerlei. Die Ram-Anhänger sind nun auch solche der Partei. Bernard Imhasly, Neu-Delhi
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