Erfinder des Patchworkstrickens: Muschelmuster über Neukölln
Horst Schulz lebt in einer Parallelwelt aus Maschen und strickt in seiner musealen Wohnung gegen die Welt an.
Horst Schulz hat sich eingestrickt. In eine Welt voll flauschigem Strick und Antiquitäten. In eine Welt, die eingefasst ist in Wände mit goldfarbenen Dekortapeten und gestrickten Kacheln. "Die Primitivität da draußen macht mich krank", sagt Horst Schulz. Wie ein alter Aristokrat sitzt der Grauhaarige aufrecht in einem seiner Polsterstühle im Halbdunkel. Schwere Vorhänge verschlucken das Rauschen des Verkehrs einer Neuköllner Hauptverkehrsstraße.
40 Jahre lebt der Eigenbrötler schon in der Jugendstilwohnung, etwa die Hälfte seines Lebens. Auf Flohmärkten hat der Sammler Dutzende von Kronleuchtern, Kerzenständer, schwere Bilderrahmen und Möbel erstanden. Die Sessel und das Kanapee, auf dem ein Waschbärfell ruht, hat er eigenhändig aufgepolstert. Entrückt und ein wenig abgehoben wirkt der 76-Jährige, wenn er in Strickjacke mit Muschelmuster und goldfarbener Cordhose durch die mit antiken Liebhaberstücken überladenen sechs Zimmer führt. Zu etwas Besserem sei er geboren, schon früh habe er das gewusst. Wie sein Onkel will er als Junge Polsterer werden, da der im Theater als Bühnenbilder arbeitet. In diese Berühmtheit versprechende Welt will Schulz.
Berühmt wird der Ehrgeizige später tatsächlich, allerdings nicht mit Bühnenbildern, sondern mit Nadeln. Für seine Erfindung des Patchworkstrickens wird er in den 80er-Jahren in der Strickwelt bekannt, seine Workshops sind jahrelang ausgebucht. Seine Stricktechnik wird heute vor allem in Handarbeitsforen verbreitet, wo sich Hobbystrickerinnen über Muster austauschen. Wie Liane Schommertz, die eine eigene Seite betreibt und über die Technik von Schulz ein Buch geschrieben hat. Fragt man sie nach Schulz, gerät sie ins Schwärmen: "Der hat was Tolles erfunden und ist einfach ein Name in den Strickforen".
Der Welt draußen trotzen
Horst Schulz ist in den Foren nicht unterwegs, und auch dass seine Technik inzwischen "schulzen" genannt wird, beeindruckt ihn wenig. Für Virtuelles ist kein Platz in seiner konservativen Welt, in der es noch Empfänge und "Fräuleins" gibt, in der Männer logische Strickmuster besser begreifen als Frauen und in der er keine Migranten mit schlechten Deutschkenntnissen wie in seiner Nachbarschaft haben will. "Ich versteh draußen ja gar nix mehr. Ich mache mich zu, wenn ich da raus muss", sagt Schulz und nickt in Richtung Wohnungstür.
So trotzt er strickend in seiner musealen Festung der Welt draußen. Bekannt wurde er mit seiner Kunst erst in der zweiten Hälfte seines Lebens, denn fast ein halbes Jahrhundert nahm er keine Nadeln in die Hand, zu viel hatte er als Junge im Auffanglager gestrickt. Geboren 1933 im damaligen Westpreußen, flieht er mit seiner Familie 1945 zunächst nach Dänemark und verbringt dort vier Jahre in einem Flüchtlingslager. "Alles war grau in grau, aber eines Tages seh ich da eine gestrickte Decke, die zum Trocknen aufgespannt war. Das war Wahnsinn", erzählt Horst Schulz. Eine alte Frau bringt ihm bei, Jutesäcke aufzutrennen und mit den rauen Fäden zu stricken. Mehr als 30 Decken mit den schwierigsten Mustern strickt er mit Drähten als Nadeln. Eine dieser Tischdecken ist heute im Museum für europäische Kulturen in Dahlem ausgestellt. Zum Thema "Stunde null" gab es dort vor einigen Jahren eine Ausstellung, in der Biografien mit Ausstellungsstücken verknüpft wurden. Das Stück von Schulz ist dann in die Dauerausstellung übergegangen. Fragt man die Kuratorin Dagmar Neuland nach einer Decke aus einem dänischen Auffanglager, sagt sie sofort: "Ach die von Horst Schulz, der ist ein Original. Das Besondere bei ihm ist, dass er seine Technik von damals weiterentwickelt hat."
Ende der 40er-Jahre darf die Familie Schulz nach Deutschland ausreisen und kommt auf einem Hof in Schwaben unter. "Dann hatte ich die Schnauze voll vom Stricken", sagt Schulz. Er wird Polsterer, und es folgt ein Leben voller "Klopse". Mit der Wendung "dann kam ein weiterer Klops" beginnt Schulz beim Erzählen jedes neuen Lebensabschnitts. Die Klopse sind die Zufälle, die ihn nach der Lehre nach Norddeutschland führen, ihn zum Dekorateur werden, mit seinen Schaufenstern Preise gewinnen lassen und die ihn schließlich Ende der 60er-Jahre nach Berlin führen. Zwei Stockwerke unter seiner heutigen Wohnung war damals ein Bekleidungsgeschäft, in dem er als Chefdekorateur anfing und in die damalige Dienstwohnung einzog.
Mit der Anti-Atom-Bewegung und den Grünen kommt Stricken in den 80er-Jahren wieder in Mode, und das Neuköllner Geschäft nimmt Wolle ins Sortiment. Die Kunden kaufen nicht nur, sie brauchen auch Hilfe beim Stricken, und Horst Schulz kann helfen. Später gibt er nach Ladenschluss Kurse. Fast durch Zufall entwickelt er das Patchworkstricken. Er sucht nach einer Lösung, damit sich beim mehrfarbigen Stricken die Knäule sind nicht immer zu einem Wust verheddern. Nach der Schulz-Technik wird immer nur mit einer Farbe gestrickt, an das Stück wird in der nächsten Farbe direkt dran gestrickt. So müssen die einzelnen Teile nicht wie bei einem genähten Quilt zusammengenäht werden.
Als Schulz für eine Werbeaktion Mitte der 80er-Jahre einen Tag lang im Schaufenster strickt, entdeckt ihn das Fernsehen. "Wenn da ein Fräulein gesessen hätte, hätt das keen Mensch interessiert", sagt Schulz. Er sitzt in Fernsehsendungen und kann sich kaum retten vor "Stricklingen", wie er seine Schülerinnen - und auch einige Schüler - nennt. Wieder kommt ein "Klops", denn genau in dieser Zeit geht sein Arbeitgeber pleite. Schulz hat inzwischen einen Manager, schreibt ein Buch über seine Strickkunst und stellt im Londoner Victoria and Albert Museum aus. Er reist nach Holland, in die Schweiz, in die USA und nach Südafrika, um Kurse zu geben. "Ich hab sie alle mit meinen Maschen infiziert. Da war ich ein Star", sagt Schulz und richtet sich in seinem Stuhl auf.
Der Gong einer Uhr holt ihn aus der Erinnerung zurück. "Heute bin ich einfach nur noch müde", sagt er plötzlich. Seit fünf Jahren kommen keine "Stricklinge" mehr zu ihm nach Hause. Zutritt in sein Reich hat fast nur noch Norman. Seit 25 Jahren lebt er mit dem 20 Jahre jüngeren Engländer zusammen. Auf jede USA-Reise hat der ihn begleitet, bei den Workshops übersetzt und die Strickmodelle vorgeführt, mehr verrät er nicht von seinem "Untermieter". Den ganzen Tag über warten auf der langen Tafel im Esszimmer zwei Gedecke mit goldenen Löffeln und bunten Kristallgläsern auf Normans Feierabend.
Für die Besucher öffnet Schulz den alten Schrank, in dem sich seine gestrickten Schätze stapeln: Jacken und Pullover mit Wellen- und Muschelmustern, alle schreiend bunt. Eine davon hatte er vor einigen Jahren für den Entertainer Jürgen von der Lippe gestrickt. Da der sich aber für das arbeitsaufwändige Stück nicht bedankt habe, hat Schulz dessen Agentur angeschrieben und sein Werk zurückgefordert. Nicht geschätzt habe von der Lippe die Handarbeit, schimpft Schulz und fragt, was nur werden solle mit all seinen Jacken, Decken und den Möbeln, wenn "der strickende Opa aus Neukölln" einmal nicht mehr sei. Für Handarbeit interessiere sich kaum noch jemand, gerade in Neukölln gebe es überall nur Billigläden und "Saufenster", die dem Dekorateur das Herz brechen. "Die Leute kaufen nur billig Produziertes, um es wieder wegzuschmeißen", schimpft Schulz.
Sein größtes Patchwork-Werk ist vor ein paar Wochen fertig geworden, zwei Jahre hat der Stricker von Neukölln daran gearbeitet. Der zehn Quadratmeter große bunte Wollquilt mit kleinen Bommeln soll einmal die Sargdecke des Strickkünstlers werden. "Was soll ich mir einen teuren Sarg kaufen? Einer aus Pappe tuts auch, wenn er mit so einer schönen Decke dekoriert ist."
Wenn Schulz strickt, verlässt er das Halbdunkel seiner Wohnung, schiebt die Gardine beiseite und betritt die kleine Zwischenwelt in Form eines hellen Erkers. Nur hier gibt es genügend Tageslicht, damit seine Augen die kleinen Maschen noch erkennen können. Hier strickt Horst Schulz hoch oben über den großen Einkaufszentren und kleinen Ramschläden von Neukölln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“