■ Erfahrungen mit dem „Fingerspitzengefühl“ von Polizei und BGS beim Castor-Transport: Misshandlung und Unwahrheiten
betr.: „Entsorgung ist Umweltschutz“, „Perfekt gelenkter Widerstand“, „Der Blockierer, das Gespenst“, taz vom 14. 11., 15. 11. und 16./17. 11. 02
Wie ich hörte, sind Polizei und BGS mit großem „Fingerspitzengefühl“ vorgegangen. Das kann ich bestätigen. In Hitzacker haben sie sich nicht langwierig mit Rechtsbelehrungen und mit dem Wegtragen von Demonstranten abgegeben. Mit trainierten Fingerspitzen haben sie in Augen und Nasen gestochen. Sie haben demonstriert, welche Würgegriffe sie beherrschen und wie sie Arme und Finger verdrehen können.
Bemerkenswert war auch das „Zungenspitzengefühl“ der verantwortlichen Stellen. Das begann schon mit der Verfügung der Bezirksregierung. Die „Gefahrenprognose“ stützt sich zum Teil auf verdrehte Zitate und nachweisliche Unwahrheiten. Tausende friedlicher Menschen werden dort von amtlicher Zungenspitze als potenzielle Gewalttäter etikettiert. Auch die Polizei verbreitete gezielte Falschinformationen. Die peinliche Krönung ist die Meldung über die angebliche Vollbremsung eines ICE. Strohhalme auf Polizistenhelmen sind laut Einsatzleiter „die Grenze der Selbstaufgabe“. Welche Worte fallen ihm wohl zur Misshandlung von Jochen Stay (Sprecher von X-tausendmal quer) ein?
Auch über das „Fußspitzengefühl“ der Einsatzkräfte könnte man lange erzählen. Nicht nur Körper wurden in den Dreck getreten. Auch Gefühle. Was mögen die Lehrer der Freien Schule Hitzacker empfunden haben, als ihre Schule von Polizei und BGS „beschlagnahmt“ wurde? Was fühlen Schüler, wenn sie erfahren, dass ihr Schulgarten von einem Wasserwerfer zerfahren wurde? Was geht in Kindern vor, wenn sie erleben, dass ihre Väter und Mütter nachts nicht nach Hause kommen, weil diese von der Polizei gedemütigt und widerrechtlich eingesperrt wurden?
Es gibt noch ein Gefühl, von dem weder Herr Reime (Einsatzleiter) noch Herr Bartling (Innenminister Niedersachsen) gesprochen haben. Ich meine das Schamgefühl. JENS MAGERL, Bussau
Polizeisprecher Detlev Kadinski hat das Wichtigste für diesen Castor-Transport gesagt: „Auch die Presse muss sich an die Regeln halten.“ Wenn also eine Fotografin die Bahngleise betritt, nur um ein Foto zu machen, so setzt sie sich dreisterweise über die „Eisenbahn Bau- und Betriebsordnung“ Paragraf 64 b hinweg. Das ist so böse wie falsch parken.
Ein Grundrecht wie das Recht auf Pressefreiheit ist demgegenüber dann unbedeutend, wenn die Polizei bemüht ist, das Thema Atomenergie aus den Medien fern zu halten. Auch wir mussten auf der Transportstrecke miterleben, dass es der Polizei wichtig war, ohne Öffentlichkeit arbeiten zu können. Dieses Konzept könnte aufgehen: Wenn die Presse nichts sehen darf, wird sie wenig berichten können, und am Schluss könnte das Bild rüber kommen, das nichts gewesen wäre, hätte Herr Reime, Einsatzleiter der Polizei nicht gesagt: „Es war der schwierigste Transport, den wir zu schützen hatten.“ ALEXANDER SASSE, Marburg
Im Zusammenhang mit der Gleisblockade während der Castor-Demonstrationen in Lüneburg berichten Sie über eine seitens der Polizei verbreitete „offensichtlich falsche Darstellung, um die Castor-Gegner zu kriminalisieren“.
Das erinnert mich stark an gewisse Vorgänge während der Castor-Demonstationen im März 2001. Immer wieder tauchten damals plötzlich kleine Gruppen schwarz gekleideter und schwarz vermummter Gestalten auf – sportlich gut durchtrainierte junge Menschen, die sich wieselflink bewegten, mit Steinen auf die Polizei warfen, manchmal auch mit Leuchtmunition schossen. Sie zogen sich den einhelligen Zorn aller übrigen Demonstranten zu, denen an einem unbedingt friedlichen Verlauf der Demonstrationen gelegen war. Aber diese Leute waren nicht zu fassen, denn so plötzlich wie sie kamen, verschwanden sie wieder im Dunkel. Ich hatte mehrmals Gelegenheit, diese Leute aus der Nähe zu beobachten. Dabei schien mir manches darauf hinzudeuten, dass sie als agents provocateurs fungierten. Dieser Verdacht war nicht nur bei mir entstanden, sondern im Wendland allgemein verbreitet.
ULRICH UFFRECHT, Buxtehude
Sehr richtig beschreibt Nick Reimer die Armut, die hier noch Mitte der 70er-Jahre herrschte. Landesregierung und Atomindustrie erkannten die „günstige“ Lage für einen Entsorgungspark (Salzstock, dreieckiges Gebiet umgeben von zwei Seiten vom Eisernen Vorhang der DDR), sie vermuteten, dass für viel Geld und die Aussicht auf Arbeitsplätze etliche Menschen käuflich sind. Und so kam es: Die Gemeinderäte wurden hofiert und durch Wohltaten gefügig gemacht, den Bauern ihr karges Land für viel Geld abgeschwatzt und den Gemeinden ihre Verantwortung abgekauft. Dafür musste sich die Gemeinde schriftlich verpflichten, sich „wohl zu verhalten“. Etwa 50 Prozent der Gorlebener hängen direkt oder indirekt von den Atomkraftbetreibern ab.
Welch Wunder, dass keiner der Amtsträger Zweifel zu äußern wagt an der Ungefährlichkeit dessen, was jetzt schon in 32 Castoren in der Zwischenlagerhalle (einer besseren Kartoffelscheune mit Luftschlitzen) steht, was mit dem Endlager und bestimmt mit der „Pilotkonditionierungsanlage“ noch auf uns zukommt.
Aber die Behauptung, dass es nicht viele Einwohner gebe, „die etwas gegen den Transport haben“ und dass die Menschen, die für die Atomanlagen sind, aus Angst vor der Anti-Atom-Bewegung sich nicht zitieren lassen wollen, ist blanker Hohn! Es gibt eine Reihe von Einwohnern, die die Anti-Atom-Bewegung unterstützen, aber nicht genannt werden wollen; es hängen wirtschaftliche Existenzen davon ab. Dennoch, es werden mehr, die sich öffentlich zu ihrer Angst und Ablehnung bekennen. Wenn Bürgermeister Krüger gesagt hat: „Wir leben davon“ (von den Atomanlagen), so hätte er dazusetzen müssen, „und unsere Nachfahren sterben an den Folgen“. CHRISTIANE BÖNING, Vietze
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