Erfahrungen europäischer Azubis: So lernt man dazu
In Berlin entdeckt die Finnin Silja ihre schöpferische Seite. Den feinen Unterschied der Böden lernt Christoph in Frankreich kennen. Und Beatrice aus Madrid gefällt die deutsche Arbeitskultur.
Fesch und finnisch. Fast zärtlich streicht Silja Matleena Saari mit ihrer Hand über die Ansteckblumen aus zartrosa Chiffon. Ihre pink lackierten Fingernägel leuchten grell, die hellblauen Augen der 20-Jährigen mustern die Stoffblüten, die sie selbst entworfen und genäht hat. "Ich stelle das her, was meinen Augen gefällt", sagt die finnische Auszubildende für Modedesign.
Vier Wochen arbeitete die Finnin als Praktikantin bei der Berliner Modedesignerin Andrea Schelling - eine Europapremiere für beide. Silja wandte sich an die Lehrer der Berufsschule ihrer finnischen Heimatstadt Rovaniemi und erklärte ihnen, dass sie einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren wolle. Mithilfe des Städtenetzwerks Xarxa, eines Zusammenschlusses von 22 europäischen Städten, stellte die Schule über die Stadtverwaltung Rovaniemi den Kontakt nach Berlin her. Dort warb die "Xarxa Mobility Managerin" Marianne Kaschubat, die sich im Auftrag der Senatsverwaltung um EU-Bildungsprogramme kümmert, um einen passenden Praktikumsplatz für Silja. Eine wichtige Voraussetzung waren gute Englischkenntnisse.
Am ersten Arbeitstag in Berlin sagte Andrea Schelling ihrem finnischen Arbeitsgast: Entwirf dekorative Stoffblumen, lass deiner Fantasie freien Lauf. Die Blumen gefielen Andrea Schelling so gut, dass sie sie an die Kleider im Schaufenster ihres kleinen Geschäfts in Berlin-Charlottenburg drapierte. Silja fertigte außerdem eine Abendtasche an sowie Kopfschmuck mit Federn, sie nähte einen Mantel und stellte ein violettes Oberteil her - vom Zuschnitt bis zur letzten Naht. "An meiner Berufsschule in Finnland lernen wir nur ganz einfache Schnitte, es ist immer das Gleiche." Jetzt durfte die Finnin schöpferisch sein und hantierte mit teuren, pastellfarbenen Materialien, die für sündhaft teure Abendkleider und Theaterkostüme bestimmt sind. Mit ihrem langen, schwarz gefärbten Haar, in Jeans und weißem T-Shirt steht Silja in Andrea Schellings "Showroom" und sagt: "Ich fühle mich wie in einem Märchen mit all diesen Stoffen und bestickten Kleidern."
Berlin, das Mode-Eldorado für junge Finninnen? Ja, antwortet Silja, in Berlin habe sie viele Klamotten eingekauft. Die seien viel günstiger als in Finnland. Geld gab es von der Europäischen Union: 670 Euro monatlich, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Europa zahlt auch die Kosten für Sozialversicherungen. Silja wohnt preiswert bei einer Gastfamilie und erhält ein europaweit anerkanntes Zertifikat. Doch nicht nur Silja hatte etwas von dem Auslandsaufenthalt, auch ihre Kollegin an der Nähmaschine. Die Schneiderin Juliane Hartmann sagt: "Ich habe mein Englisch verbessert. Und verglichen mit uns gehen junge Finnen reifer ins Berufsleben."
Mit deutschem Augenmaß. Die Erde macht den größten Unterschied. Christoph Huth, 19, sagt, der Boden in den Vogesen sei lehmig, schwer und voller Steine. Gemeinsam mit seinen französischen Kollegen musste der angehende Landschaftsgärtner sogar einen riesigen Findling mit Brechstangen und Bagger entfernen.
Solche Aufgaben stellt der sandige märkische Boden in Berlin nicht. Dort arbeitet Christoph normalerweise beim Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Doch im April durfte er ein einmonatiges Praktikum in Frankreich absolvieren. Auf 650 Meter Höhe, mitten in den Vogesen, liegt der "Jardin de Berchigranges", der Privatgarten der Eheleute Monique und Thierry Dronet: ein poetisch-künstlerisch gestaltetes Gelände mit 4.000 Pflanzensorten, einige Kilometer entfernt vom Ort Granges sur Volognes. "Provinz" würde ein Deutscher sagen. Christoph betrachtete das, was er sah, mit französischen Augen: "Berge, Natur, nette Menschen." Der etwa 1,90 Meter große, schlanke junge Mann schätzt körperliche Arbeit an der frischen Luft - in Frankreich gern auch mal ein, zwei Stunden länger als in Berlin. Mit viel Augenmaß und wenigen Werkzeugen baute er beispielsweise eine Holzmauer aus Robinien und legte Beete zwischen Eisenbahnschwellen an - alles ganz anders als in Berlin-Wilmersdorf. "Das macht Spaß. Die Kollegen waren sehr nett, oft habe ich mich am Ende des Arbeitstags allein in den Garten gesetzt und den ganzen Abend gelesen." Zu Fuß, so wie jeden Tag, lief er dann zu einem einsamen Ferienhaus mitten im Grünen, wo er mit drei weiteren deutschen Praktikanten wohnte. Die vier hatten zwar kein Auto, aber die Mitarbeiter der Garteneigentümer nahmen sie mit zum Einkaufen in die nächste Stadt. Manchmal luden Kunden die deutschen Junggärtner zum 3-Gänge-Menü ein.
"Wer in Deutschland zum Landschaftsgärtner ausgebildet wurde, ist bei Arbeitgebern im Ausland gern gesehen", erklärt Christoph und zupft sich an seinem rotbraunen Kinnbärtchen. Das duale Ausbildungssystem in Deutschland gilt im übrigen Europa als vorbildlich. Christoph wollte in Frankreich vor allem seinen Horizont erweitern. Französisch hat er an der Realschule nicht gelernt. Deshalb war im Praktikum Englisch angesagt: "Kurze, knappe Ansagen. Man wusste, was gemeint war."
Doch die Sprachbarriere wird ihn nicht aufhalten. Das nächste Mal will er "eine ganz andere Kultur kennenlernen". Vor allem reizen ihn Japan und Russland. "Die Gärten in Moskau sollen toll sein." Aber zunächst muss der 19-Jährige in einem Jahr seine Abschlussprüfung absolvieren.
Spanisch diszipliniert. Flaschen und Konserven ins Regal einräumen und Preise aufkleben: damit fängt beim Berliner Großhandel "Spanische Quelle" jeder Neue an. Beatrice Garcia aus Madrid erging es nicht anders. Und es ist noch nicht einmal besonders exotisch für die 24-jährige kaufmännische Auszubildende, in Deutschland zu sein. Im Neonlicht der Lagerhalle hat sie ständig die bekannten spanischen Markenprodukte vor Augen. Warum will sie dann unbedingt in Deutschland ein Praktikum absolvieren?
"Ich bin hier vor allem wegen der Sprache. Ich will Deutsch lernen." Damit habe ich bessere Chancen, in Madrid einen Job zu finden." Beatrice bestreitet nicht, dass sie Angst vor der Arbeitslosigkeit hat. Spanien weist nämlich inmitten der Krise die höchste Erwerbslosenquote in ganz Europa auf.
Obwohl sie intensiv Deutsch lernen will, umgibt sich Beatrice in Berlin gern mit ihren Landsleuten: Sie wohnt mit drei Freunden aus Spanien in einer Wohnung. Und ruft drei- bis viermal pro Woche ihre Eltern in Madrid an - das sei selten, sagt sie.
Nach zwei Monaten in Berlin hat sich Beatrice in der "Spanischen Quelle" hochgearbeitet. Jetzt wird sie die restliche Zeit ihres dreimonatigen Aufenthalts in der Buchhaltung bleiben. Hier nimmt Beatrice täglich Einblick in die Geschäftsabläufe des Großhändlers. "Ich bin halt gut in Mathe", sagt sie und sitzt lässig in schwarzem T-Shirt am Tisch. Ihre blauen Augen blicken konzentriert auf Betriebsleiter Miguel Toca, der sagt: "In der Buchhaltung durfte bislang kein Praktikant arbeiten. Rechnungswesen ist eben kompliziert." Aber auch Vertrauenssache, immerhin werden in dem Unternehmen mit seinen 17 Mitarbeitern jährlich Millionen umgesetzt.
Beatrice wünscht sich, dass sie noch einige Monate länger bei dem Großhandel bleiben darf. Hier sammele sie praktische Erfahrungen, die sie bislang in Spanien so nicht gemacht habe, räumt sie ein. Denn in anderen europäischen Ländern lernen junge Menschen ihren Beruf ausschließlich in der Schule. Mit dem Alltag im Betrieb werden die jungen Berufstätigen erst nach der Ausbildung konfrontiert. Für Beatrice war der Sprung ins Arbeitsleben kein Problem. Sie staunt über die andere Arbeitskultur in Deutschland. "Die Deutschen sind disziplinierter, ernster und seriöser als die Spanier."
SILJA MATLEENA SAARI
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr