Erdogans Polemik: Frauen, die abtreiben, sind Mörderinnen
Der türkische Premier bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche als Anschlag auf das Land und bringt damit Frauen gegen sich auf. Hunderte demonstrieren in Istanbul.
ISTANBUL taz | Obwohl nach geltendem Recht in der Türkei eine Abtreibung bis zur zehnten Woche einer Schwangerschaft ohne weitere Indikation legal ist, brachte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach der Bildungsreform jetzt ein neues Anliegen der konservativ-islamischen Kräfte des Landes in die Debatte. Bei mehreren öffentlichen Auftritten am Wochenende bekräftigte er seine Auffassung, dass jede Abtreibung ein Mord und damit durch nichts zu rechtfertigen sei.
Den äußeren Anlass zu der Diskussion gaben Vorwürfe der Opposition wegen eines Angriffs der türkischen Luftwaffe auf jugendliche kurdische Schmuggler im Grenzgebiet, die das Militär für PKK-Guerilleros gehalten hatte. Es waren 35 Menschen getötet worden, ohne dass bislang geklärt ist, wer genau dafür verantwortlich war. Erdogan sagte während eines Auftritts in Istanbul an die Adresse der Opposition und der Medien: „Sie regen sich schon seit Monaten wegen des Fehlers in Uludere (dem Dorf, wo die Jugendlichen getötet wurden) auf, aber ich sage: Jede Abtreibung ist wie Uludere.“
Erdogan stellte auch klar, dass seine Polemik gegen Frauen, die abtreiben, keine spontane Entgleisung war. Für ihn sei eine Abtreibung ein Anschlag auf das Land, weil das Wachstum der Bevölkerung und die weitere Entwicklung der Türkei dadurch behindert werde. Er bekräftigte seine Auffassung, dass jede Familie mindestens drei Kinder haben sollte, damit die Türkei eine junge, dynamische Gesellschaft bleibt.
Zwar gibt es bislang noch keinen Gesetzentwurf, mit dem die bisherige Abtreibungspraxis eingeschränkt werden soll, doch viele Frauen sind nach den Erfahrungen mit anderen gesellschaftspolitischen Vorstößen von Tayyip Erdogan alarmiert.
„Was tun Sie dagegen, Herr Erdogan?“
Noch am Sonntag fand eine spontane Demonstration vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten in Istanbul statt. Einige Hunderte Frauen versammelten sich und forderten, dass die Entscheidungsfreiheit der Frauen in der Abtreibungsfrage nicht angetastet wird. Aylin Nazliaka von der Oppositionspartei CHP erinnerte daran, dass in Europa nur Malta und Irland Abtreibungen verbieten. „Ist Malta die Vision von Herrn Erdogan für die Zukunft der Türkei?“, fragte sie. Andere Frauen erinnerten auf Transparenten daran, dass in der Türkei jeden Tag mindestens eine Frau durch häusliche Gewalt getötet wird. „Was tun Sie dagegen, Herr Erdogan?“, fragten sie.
Seit dem dritten Wahlsieg der konservativ-islamischen AKP im Juni 2011 setzen Erdogan und seine Partei offensiv auf eine islamische Transformation der Gesellschaft. Als Erstes hatte Erdogan angekündigt, sein Ziel sei es, in der Türkei eine gläubige Jugend heranzuziehen. Wenig später wurde religiösen Schulen durch eine Veränderung des Bildungssystems eine privilegierte Position eingeräumt.
Kurz danach legte sich der Ministerpräsident mit der säkularen Kulturszene an. Kritische staatliche Theater will er nicht weiter subventionieren, sondern privatisieren. Dann, so sagte er, könnten sie spielen, was sie wollen. Der jüngste Vorstoß ist daher wohl kein spontaner Einfall, sondern Teil eines Programms für die „neue Türkei“ von Erdogan.
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