Erdogans Partei doch nicht verboten: Türkei entgeht dem Chaos
Eigentlich war eine Mehrheit der Richter für ein Verbot von Erdogans AKP, doch es waren nicht genug Stimmen. Vielleicht verhinderte die Furcht vorm politischen Chaos das Verbot.
Für den türkischen Premier Tayyip Erdogan muss es eine extrem angespannte Woche gewesen sein: Erst der Bombenanschlag in Istanbul, dann das bange Warten auf die Entscheidund der Verfassungsrichter, ob seine Regierungspartei AKP nun verboten wird oder nicht. Eigentlich war eine Entscheidung erst für Ende der Woche erwartet worden, doch dann kam am Mittwochnachmittag die erlösende Nachricht für Erdogan: Das Verbot war gescheitert.
Die Entscheidung fiel denkbar knapp. Denn sechs der elf Richter, eigentlich eine Mehrheit, hatten für ein Verbot der AKP votiert. Doch das türkische Recht schreibt sieben Ja-Stimmen vor.
Die Entscheidung ist eine große Überraschung. Angesichts der Zusammensetzung des Gerichts war allgemein mit einem Verbot der AKP gerechnet worden. Das Urteil bedeutet, dass es nicht zu der erwarteten Regierungskrise kommt. Es gibt keine Politikverbote für die führenden Politiker der Partei, Ministerpräsident Tayyip Erdogan bleibt im Amt, auch Neuwahlen sind nicht mehr notwendig.
Unmittelbar nach dem Urteil wurde über die Gründe für die Entscheidung noch nichts bekannt. In einem längeren Statement beklagte Gerichtspräsident Hasim Kilic lediglich, dass sein Richterkollegium in den letzten Monaten einem kaum erträglichen öffentlichen Druck ausgesetzt gewesen sei und etliche Journalisten in ihren Kommentierungen jegliche ethischen Grundsätze hätten vermissen lassen.
Allerdings verpasste das Gericht der AKP einen Warnschuss. Es wollte die Vorhaltungen wegen antilaizistischer Vergehen nicht ganz zurückweisen, sondern entschied, die staatliche Parteienfinanzierung der AKP zu halbieren. Die Staatsanwaltschaft hatte freilich sehr viel mehr verlangt: In ihrem Verbotsantrag vom März forderte sie neben dem Parteiverbot ein fünfjähriges Verbot der politischen Betätigung für Erdogan und 70 weitere AKP-Mitglieder.
Damit folgte das Gericht den Stimmen in der türkischen Öffentlichkeit, die sich dafür starkgemacht hatten, der Partei zwar eine Rüge zu erteilen, ein Verbot aber abzulehnen. Nachdem das Gericht die isolierte Verfassungsänderung zur Freigabe des Kopftuchs vor wenigen Wochen noch mit großer Mehrheit zurückgewiesen hatte, sei die rote Linie ja klar geworden, so die Meinung vieler Kommentatoren.
Während der Bekanntgabe des Urteils mahnte Gerichtspräsident Hasim Kilic die Politiker des Landes an, eine neue Verfassung zu entwerfen, die nicht mehr den Richtern elementare politische Entscheidungen aufbürdet.
Ein Grund für die Entscheidung mag auch der Terroranschlag am Sonntagabend gewesen sein. Ein Verbot hätte das Chaos in der Türkei potenziert und alle Kräfte, die an der Destabilisierung des Landes arbeiten, gestärkt. In einer Situation, in der an der Grenze zu Nordirak praktisch Krieg gegen die PKK geführt wird und im ganzen Land Ermittlungen gegen potenzielle Putschisten stattfinden, wollte das Gericht offenbar nicht das Risiko eingehen, ein politisches Vakuum zu schaffen.
Auch außenpolitisch sorgt das Urteil nun für Entspannung. Joost Lagendeik, Grünen-Abgeordneter im EU-Parlament und für die Türkei zuständig, sagte, er sei erleichtert über die Entscheidung. Ein Verbot wäre ein Fehler gewesen. Die AKP müsse nun die richtigen Schlüsse aus dem Urteil ziehen und sich stärker bemühen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und die Ängste des laizistischen Lagers zu berücksichtigen.
Derweil hat die Polizei auch drei Tage nach dem verheerenden Bombenanschlag in Istanbul am Sonntagabend noch keinen Verdächtigen festnehmen können. Gefahndet wird nach einem Mann, der gefilmt wurde, als er kurz vor der ersten Explosion rennend den Platz verließ. Noch sind aber nicht alle Überwachungskameras aus der Umgebung ausgewertet und eine abschließende Analyse des verwendeten Sprengstoffs steht ebenfalls noch aus.
So wird in der Öffentlichkeit weiterhin heftig über die Urheberschaft des Anschlags spekuliert. Dabei fällt auf, dass die Opposition möglichst die kurdische PKK für den Terrorakt verantwortlich machen möchte, während regierungsnahe Zeitungen eher die vermeintliche nationalistische Terrorgang "Ergenekon" in den Vordergrund spielt, weil just am Freitag vor dem Anschlag bekannt wurde, dass der Prozess gegen 86 verdächtige Möchtegern-Putschisten im Oktober beginnen soll.
Angesichts dieser geradezu reflexhaften Schuldzuweisungen entlang der derzeitigen Spaltungslinie der türkischen Gesellschaft bestehen wohl nur geringe Chancen für einen großen Schweigemarsch gegen den Terror, wie er von verschiedenen NGOs ins Spiel gebracht wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen