Erdogan sieht Komplott: „Das glaubt doch keiner mehr!“
Die harten Worte des türkischen Premiers bei seiner Rückkehr aus Nordafrika lösen bei den Demonstranten in Istanbul eher Gleichgültigkeit aus.

Ob er's noch glaubt? Bild: dpa
ISTANBUL taz | „Erdogan ist so ermüdend. Er sagt immer dasselbe. Schon bevor er den Mund aufmacht, weiss man was herauskommt“. Die junge Frau am Zelt von Greenpeace auf dem besetzten Taksim-Platz im Herzen Istanbuls ist vom Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sichtlich unbeeindruckt. Dabei hatte Erdogan wenige Stunden zuvor am Istanbuler Flughafen direkt nach seiner Rückkehr von einer viertägigen Nordafrikareise den Besetzern des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks unverhohlen gedroht.
Vor zehntausend tobenden Anhängern, die zuvor von seiner Partei in Bussen zum Flughafen gebracht worden waren und dort bis 2:00 Uhr morgens auf ihn gewartet hatten, sagte er: „Die Proteste müssen sofort aufhören. Sie haben ihre demokratische Glaubwürdigkeit verloren und sind zum Vandalismus geworden. Unter die Protestierer haben sich Terroristen und Anarchisten gemischt“.
Erdogans Anhänger skandierten unterdessen: „Erdogan, wir sind bereit für dich zu sterben“ und, in Bezug auf die Besetzer des Taksim-Platzes: „Lasst uns sie alle zerquetschen“.
Nachdem Erdogan seine Anhänger zunächst aufgeputscht hatte, mahnte er sie dann allerdings, Ruhe zu bewahren: „Ihr habt euch in den letzten Tagen ruhig und reif verhalten“, lobte er die Menge. „Wir werden jetzt alle in Würde nach Hause gehen“.

Tausende Unterstützer erwarteten Ministerpräsident Erdogan am Istanbuler Atatürk-Flughafen Bild: Reuters
Erdogan will nicht nachgeben
Zwar blieb es in der weiteren Nacht daraufhin ruhig auf dem Taksim-Platz, doch wartet die AKP-Anhängerschaft nun gespannt, was ihr Ministerpräsident unternehmen wird. Die Verhandlungsversuche, die Staatspräsident Abdullah Gül und der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc in seiner Abwesenheit unternommen hatten, hat er noch von Tunis aus zurückgewiesen.
Er werde, ließ er sowohl seine Partei wie auch die Demonstranten wissen, das umstrittene Einkaufszentrum und seine anderen Großprojekte, wie den neuen Flughafen und die dritte Brücke über den Bosporus auf jeden Fall realisieren.
Einige Ideologen seiner Partei hatten in den letzten Tagen gestreut, die gesamten Proteste seien ein vom Ausland gesteuertes Komplott, um den weiteren wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der Türkei zu stoppen. Auch Erdogan sprach während seiner Rede am Flughafen vom „Zinskomplott“, das ausländische Kräfte inszeniert hätten.
Angeblich sei schon vor Wochen vorbereitet worden, große Summen von der türkischen Börse auf einen Schlag abzuziehen. Die türkische Börse ist durch die Unruhen, die durch das harte Eingreifen der Polizei in der letzten Woche entstanden waren, um gut zehn Prozent abgesackt, und die türkische Lira hat erheblich gegen den Dollar und den Euro verloren.
Erdogans Gegner lassen sich durch die Komplott-Theorie jedoch nicht beeindrucken. „Angebliche ausländische Drahtzieher“, meint Deniz, der die Nacht mit Freunden im Zelt im Gezi-Park verbracht hat, „das glaubt ihnen doch niemand mehr. Das ist doch wirklich eine alte Kamelle“.
Leser*innenkommentare
bull
Gast
Diese Scheiss Erdogan Regıerung hat sich durch dıe Abschaffung des Sitzenbleibens ın den Schulen eın dauerhaft dummes Wahlvolk gezogen.İch habe noch nie so viele dumme Türken gesehen wie ın den letzten Jahren.Die Jugendlichen hier werden in Zukunft keine Chance haben mit Europa zu konkurrıeren.Gute Nacht Türkei.Welcome ın Arabıan Land.
Ilhan
Gast
Ob die Menschen daran glauben oder nicht, zeigt sich spätestens nächstes Jahr an der Wahlurne. Kein Grund zur Aufregung also. Die Türkei ist nicht Syrien oder Libyen, Erdogan nicht Assad oder Gaddafi.
Irma Kreiten
Gast
Auch wenn die Proteste nicht vom Ausland gesteuert sind sondern ein bemerkenswerte3r Ausdruck des Demokratieverstaendnisses der Menschen in der Tuerkei, so gibt es doch Versuche, diese fuer aussenpolitische Interessen zu instrumentalisieren. Das sieht man gerade auch an der deutschen Presse, die in einem Artikel nach dem anderen behauptet, es handele sich bei den Protesten um einen Aufstand der Saekularen gegen die religioese Politik Erdogans. Instrumentalisierung ist auch, wenn eine Delegation der deutschen Linkspartei explizit nach Istanbul reist, um dort gegen die AKP zu demonstrieren. Den Hinweis an Sevim Dagdelen auf ihrer Facebook-Seite, dass so etwas weder konstruktiv ist noch dem Wesen der ueberaus mannigfaltigen Protestbewegung entspricht samt dem Hinweis auf die von der Bilgi-Universitaet vorbereitete Studie, beantwortet sie mit meiner Sperrung von ihrer Seite. Wer so wenig Kritik und Dialog kann, kann auch anderen keine Demokratie vermitteln und hat wohl eher andersgelagerte Interessen. Man muss sich mal vorstellen, die BDP, AKP oder CHP kaemen nach Deutschland, um dort gegen CDU, SPD und FDP zu demonstrieren, welcher deutsche Politiker wuerde das wohl wohlwollend aufnehmen oder ueberhaupt akzeptieren? Wasser auf die Muehlen von Verschwoerungstheoretikern ist auch das Verhalten von Organisationen wie AI, die in Bezug auf Grundrechtsverletzungen in Deutschland nicht den Mund aufbekommen, hier aber sofort auf den Zug aufspringen.
Irmi
Gast
Erdogans Anhänger skandierten unterdessen: „Erdogan, wir sind bereit für dich zu sterben“ und, in Bezug auf die Besetzer des Taksim-Platzes: „Lasst uns sie alle zerquetschen“.
Werden solche Leute bezahlt um das zu sagen, oder haben die keine Möglichkeit selbst zu denken ?
Erdogan hat recht, dieses Land hat Ansehen verloren, nicht durch den Protest, sondern durch seine Ideologie. Hoffentlich zieht die EU daraus die Konsequenz die Türkei nicht in die EU aufzunehmen.
Bewegung
Gast
Hallo transmet, ich weiß nicht wer du bist - sollte ich das als taz-Leser? ... da du sehr persönlich schreibst. Wie auch immer, ich möchte dir ganz besonders DANKEN für deinen ausführlichen und großartigen Bericht/Brief.
Es ist toll, wie sich rumspricht, was wirklich dort passiert. Heute rief mich ein Freund in München an, der sonst nichts mit türkischer Politik am Hut hat: "du, was die Medien erzählen ist ja gar nicht wahr. Mein Sohn ist zum Urlaub in Istanbul und hat sich total in die fantastische Atmosphäre verliebt, die die Demonstranten untereinander kreieren"
Dem steht gegenüber ein fanatischer Premier, seine islamistische Partei und deren wenig hellen Anhänger ("Erdogan erlaube uns die Demonstranten zu zerquetschen" ist eine ihrer Parolen), die ihre eigene Bosheit und Gewaltbereitschaft auf den friedlichen Volksaufstand projezieren, Unsinn von Vandalen und Terroristen verbreiten (besonders über die AKP-hörigen Medien), während in Wirklichkeit gerade das Gegenteil der Fall ist.
Es ist wie du sagst: was da gerade in der Türkei passiert ist ungeheuer berührend, mitreißend, hoffnugsspenden.
Wir alle sind gefordert, dies in unseren Ländern zu unterstützen. Auch in vielen deutschen Städten finden an diesem Wochenende wieder Solidaritäts-Demos statt. Bitte geht hin! Und helft die unterdrückten Nachrichten und Bilder zu verbreiten.
Gern leite ich deinen Brief weiter, der mich sehr bewegt hat - habe auch Türkische Freunde und Verwandte, die mich/uns auf dem Laufenden halten. Wir sind mit euch, so gut wir können!
Nochmals großes Danke - solche anschaulichen Erfahrungsberichte von Beteiligten sind sehr wertvoll!
flipper
Gast
Interessant ist ja schon, dass Erdogan immer diese Leier von den ausländischen Provokateuren anstimmt - klingt verdächtig nach dem, was seine Kollegen in den Nachbarländern im "Frühling" immer behauptet haben. Einigen von denen ist es nicht gut bekommen. Interessant ist auch die Bigotterie, mit der er gleichzeitig die Revolution in Syrien unterstützt.
Assad ist bestimmt sogar mit 90% gewählt worden.
Gleichfalls interessant ist, wie unsere Demokraten in den Regierungen des Westens darauf reagieren, nämlich so gut wie gar nicht, man könnte sich mal wieder schämen...
Murat Cakir
Gast
@von Ihr the grimreaper: Sie natürlich mehr Ahnung. Erstens. es geht nicht mehr ein Einkaufszentrum oder nur um Gezi Park. In 80 Städten gehen Hunderttausende auf die Straße, weil sie sich nicht bevormunden lassen wollen. Es sind überwiegend Menschen, die keiner Partei angehören und sich auch von Kemalisten oder anderen Nationalisten benutzen lassen. Einfach mal die jüngste Studie der Bilgi Universität lesen. Sie werden sehen: Lesen bildet.
Zweitens: "Kentsel dönüsüm" ist Gentrifizierung und nichts anderes. Ausverkauf von öffentlichen Güter an private Kapitaleigner. Schon mal die neue Silhouette von Istanbul gesehen? Die Stadt wird nicht nur entkernt, sondern gleichzeitig werden die angestammte soziale Zusammensetzung verändert.
Nach den Tagen des Widerstandes steht eins fest: nichts mehr wird so sein, wie bisher. Und: 50% hin oder her - Erdogan war gestern.
Ihr the grimreaper
Gast
Das Jürgen keine Ahnung hat sieht man daran das dort angeblich ein einkaufszentrum entstehen soll. Die endgültige Nutzung dieses Gebäudes steht erstens nicht fest, zweitens eignet sich so ein Gebäude gar nicht als einkaufszentrum .
Für interessierte : es gibt ein animationsvideo auf youtube.
Weiterhin hat Erdogan eine städte bauliche initiative gestartet.
Der Name: 'kentsel donusum'.
Im verlauf dieser initiative wir es sicherlich nicht nur einfach erdbeben sichere gebäude geben, es werden auch parks und grünflächen entstehen. Sowas geschieht natürlich nicht über nacht.
transmet
Gast
Liebe Freunde,
ich würde euch gerne ein bisschen über die Situation hier in der
Türkei
schreiben, damit ihr - neben den ganzen Medienberichten - einen
Eindruck von
meiner persönlichen Erfahrung bekommt.
Aus der Tatsache, dass die meisten von euch mich bis jetzt noch nicht
persönlich kontaktiert haben, schließe ich, dass euch die Heftigkeit
und das
Ausmaß der Situation nicht bewusst sind. Wir sind wahrscheinlich alle
abgestumpft durch Kriegsmeldungen aus der ganzen Welt, sodass
Ereignisse wie
diese uns nicht wirklich berühren, solange sie weit genug weg sind.
Durch Facebook posts von wenigen von euch weiß ich, dass ihr die
Situation
verfolgt, aber wie gesagt glaube ich, dass eine persönliche
Berichterstattung manchmal mehr bewegen kann:
Seit Freitagnacht habe ich kaum geschlafen. Wenn ich nicht auf der
Straße
bei den Protesten bin (was ich meistens bin), sitz ich vor dem
Computer (im
Büro oder zu Hause) und verfolge die Geschehnisse, die sich von
Istanbul auf
die ganze Türkei ausgebreitet haben. Seitdem Freitagmorgen die
friedlichen
Umweltaktivisten im Gezipark brutal von der Polizei angegriffen
wurden,
haben immer mehr Leute gesagt: Jetzt reichts! Leute, die sonst noch
nie auf
einer Demonstration waren oder sich auch noch nie für Politik
interessiert
haben, einfach ALLE, die genug von Erdogans Willkür haben und alle die
Angst
haben, dass ihre Meinungsfreiheit und andere demokratischen Rechte
bald gar
nicht mehr vorhanden sein werden (Türkei ist nach China das Land mit
den
meisten inhaftierten Journalisten und anderen Unschuldigen, denen eine
Mitgliedschaft in irgendwelchen Organisationen vorgeworfen wird, die
angeblich die Regierung stürzen wollen, die meisten darunter sind
Journalisten, alte Militärsoffiziere oder Kurden). Es ist
unbeschreiblich,
was für eine Stimmung unter den Demonstranten herrscht, es geht schon
lange
nicht mehr "nur" um die Bäume im Gezipark, die für das Einkaufszentrum
gefällt werden sollten: die verschiedensten Gruppen, die sich sonst
bekriegen oder zumindest überhaupt nicht einer Meinung sind
(Kemalisten,
Kurden, Sozialisten, Nationalisten, Galatasaray Fans, Fenerbahce Fans,
Besiktas Fans) demonstrieren, kämpfen und feiern zusammen, Tag und
Nacht!
Wenn dich jemand anrempelt entschuldigt er sich, alle helfen sich
gegenseitig, alle lächeln sich gegenseitig an, alle passen auf, dass
kein
Müll im Gezipark und auf dem Taksimplatz liegen bleibt. Ich bekomme
schon
wieder eine Gänsehaut beim schreiben.
Tagsüber ist im Gezipark eher eine fröhliche Festivalstimmung, während
abends die Proteste aggressiver werden: Freitag und Sonntagnacht sind
wir
(ich, mein Freund und andere Freunde) in Besiktas gewesen, wo wir mit
Hunderten von Demonstranten den Gasbomben und Wasserwerfern der
Polizei
ausgesetzt waren. Es wird CR-Gas eingesetzt, das schlimmer ist als
normales
Tränengas, von dem einem übel wird und das die Atemwege blockiert. Es
gibt
viele, die sich übergeben müssen oder ohnmächtig werden von dem Gas,
es soll
auch jemand an den Folgen des Gases gestorben sein. Menschenrechtler
und
Ärzte gehen von 3000 Verletzten aus, davon viele schwerverletzt, die
genaue
Zahl weiß man nicht, es gibt viele verschiedene Informationen und man
weiß
nicht, welchen man glauben kann (die Regierung bestätigt nur ein
Zehntel
davon). Die offizielle Zahl der Toten ist 2, ich gehe aber allein
wegen der
Infos, die ich von Freunden (bzw. der Mutter meines Freundes, dessen
Freundin ihren Sohn verloren hat), bekommen habe (also nicht über die
sozialen Medien) davon aus, dass die inoffizielle Zahl der Toten
größer ist.
Die Polizei schlägt mit Knüppeln auf einfach nur am Ufer sitzende
Leute ein
und zielt z.T. mit den Gaspistolen und den Wasserwerfern direkt auf
die
Menschen (was natürlich streng verboten ist), was bis jetzt zu den
krassesten Verletzungen geführt hat (man muss fairer Weise sagen, dass
es
nicht alle Polizisten sind, die so extrem aggressiv sind, deswegen
halte ich
nicht so viel von den Hassparolen gegen die Polizei, es geht ja auch
mehr um
de Befehlsgeber). Am Freitag haben sie eine Gasbombe in die
Metrostation am
Taksimplatz geworfen, die ich jeden Tag benutze. Sie hatten vorher in
der
Bahn durchsagen lassen, das die Luft rein sei und die Leute, die Angst
hatten auszusteigen und hochzugehen, herausgelockt, um dann die
Gasbombe
reinzuwerfen und die Türen oben dicht zu machen!!!!!!! Ich bin sooo
wütend
geworden. Seit Freitag haben die meisten Leute gelernt, wie man mit
dem Gas
umgeht: alle haben ein Halstuch um, Gasmasken und Schwimmbrillen (der
Verkauf von billigen Pappgasmasken und Schwimmbrillen rund um den
Taksimplatz boomt ?) dabei, alle haben Essig und Sprühflaschen, in
denen
eine Lösung von Talcid (einem Magenmedikament) und Wasser ist, dabei,
beides
hilft gegen das Gas. Einige tragen auch professionelle Gasmasken und
Helme.
M. und ich sind mit unseren Snowboardhelmen und Schneebrillen
unterwegs plus
der Restausrüstung. Für diejenigen, die unausgerüstet kommen, gibt es
im
Gezipark genügend Stände, an denen alles umsonst verteilt wird, auch
Kekse,
Kuchen, Börek und Getränke werden von Freiwilligen an Ständen
verteilt.
Gesponsert werden die Sachen von allen, genommen, von denen, die es
wirklich
brauchen (z.B. hungrige Demonstranten, die seit Freitag jede Nacht auf
dem
Taksimplatz verbringen).
Ich hatte am Freitag und am Samstag das erste Mal richtig Angst um
mein
Leben. Wir wurden sowohl vom unteren Teil des Bulevars als auch von
oben
eingegast und als wir in die Hinterstraßen geflüchtet sind, haben sie
auch
dorthin Gasbomben geworfen. Wir sind an einem Auto vorbeigelaufen, in
das
eine Gasbombe geworfen wurde und die Scheiben zersprungen waren und
eine
Frau mit Kopftuch lag fast ohnmächtig auf dem Fahrersitz eines anderen
Autos. Die Frau haben wir mit Essig und Talcid-Spray wieder
aufgepäppelt,
bevor wir weitergerannt sind, um einen Weg zu finden, um zu unserem
Auto zu
kommen. In der Nacht wurde dort auch in eine Wohnung eine Gasbombe
geworfen.
In den Hinterstraßen machen Anwohner ihre Türen auf, stellen Essig und
Wasser auf die Fensterbänke und jubeln den Demonstranten zu (jetzt
kommen
mir die Tränen beim Schreiben), es ist einfach sooo krass, wie viele
Leute
dabei sind und diesen Volksaufstand unterstützen. In Etiler, wo ich
wohne -
alle, die mich besucht haben, wissen, dass es ein Reichenviertel ist,
der
Hamburger Westen Istanbuls - fangen alle jeden Abend pünktlich um 21h
an,
mit Töpfen und Kochlöffeln Lärm zu machen und hupend durch die Straßen
zufahren. Freitagnacht, in der ersten Nacht, liefen alle durch die
Straßen
unseres Viertels und riefen: Etiler, wacht auf, Besiktas braucht uns!!
Seitdem findet dieser Protest in fast allen Stadtteilen (außer in den
AKP
Stadtteilen natürlich) Istanbuls und inzwischen in über 70 von 81
Provinzen
der Türkei statt! So etwas hat es noch nie gegeben in der Türkei. Auch
wenn
die politische Einstellung dieser ganzen Leute auf der Straße total
unterschiedlich ist, es ist total egal, welche Ideologie sie antreibt,
es
ist egal, ob sie dort mit einer Kommunismus-Fahne, einer Che-Fahne,
einer
Atatürk-Fahne oder mit ihren Fußballfahnen wedeln, das einzige, was
zählt
ist, dass sie alle eine Einheit haben bilden können, mit der sie
versuchen,
ihre demokratischen Grundrechte einzufordern! Bei dieser ganzen
Revolutionseuphorie sollte man aber trotzdem nicht vergessen, dass
Erdogan
natürlich kein Diktator ist, sondern demokratisch gewählt wurde und
ca. 50 %
der Bevölkerung - zumindest noch bei der letzten Wahl - hinter ihm
stehen/standen (?). Vergleiche mit Hitler sind deswegen total fehl am
Platz.
Erdogan ist trotzdem ein autoritärer Spinner, der viele Dinge im
Alleingang
entscheidet und inzwischen jegliche Bodenhaftung verloren hat. Er
provoziert
die Demonstranten mit seiner arroganten Haltung und mit seiner
Drohung, er
könne auch eine Million Menschen zusammentrommeln, die angeblich
ungeduldig
zu Hause warten würden und auf die Demonstranten hetzen. Das würde
dann
Bürgerkrieg bedeuten! In letzter Zeit (und auch in den Zeiten vor
Erdogan
und der AKP) sind aber viele verfassungswidrige Dinge passiert (u.a.
Festnahmen wegen Meinungsäußerung) und deswegen fordert das Volk jetzt
mit
dieser Bewegung seine demokratischen Grundrechte ein.
Unsere einzigen Informationsquellen sind Facebook, Twitter und Halk TV
und
Ulusal, beides Sender der kemalistischen CHP Partei (Republikanische
Volkspartei, größte türkische Oppositionspartei), den man auch online
als
Livestream verfolgen kann. Bei den sozialen Netzwerken kann man sich
jedoch
nicht sicher sein, welche Meldungen stimmen und welche nicht, es gibt
auch
viele Provokateure und Zivilpolizisten unter denjenigen, die dort
Nachrichten verbreiten. Die türkischen Medien haben bis vor kurzem gar
nicht
berichtet, sondern lieber ihre Kuppel, Koch- und Superstarshows und
ihre
Serien weitergesendet. Der Nachrichtensender NTV hat einen
Dokumentarfilm
über Pinguine gesendet! Die Strafe dafür ist eine massiver Boykott
aller
Unternehmen der Dogus Gruppe (Besitzer: Ferit Sahenk) zu denen auch
der
Privatsender NTV gehört (Restaurantketten, die Garantie Bank,
türkische
Filialen vieler Automarken (Volkswagen, Audi, Porsche, Bentley,
Lamborghini,
Bugatti, Seat, Skoda, Scania) Immobilienunternehmen, Hotelketten etc.
Auch
vor den Sendern und Zeitungen der Mediengruppe Dogan, zu der ein
Großteil
der Fernsehkanäle und viele Zeitungen gehören, stehen jeden Tag mehr
Demonstranten und buhen die regierungsnahen Medien aus und fordern die
Mitarbeiter zur Kündigung auf, was viele bis jetzt auch gemacht haben
?. Es
ist ein Portal gegründet worden, in dem Firmen gesammelt werden, die
bereit
sind sofort Angestellte der Medien, die nicht berichten, bei sich
anzustellen. Innerhalb von 24 Stunden wurde diese Twitternachricht
2000mal
retweeted und die Firmen in dem Portal haben schon viele Bewerbungen
bekommen...Starbucks und Kitchenette haben in der ersten Nacht die
fliehenden Demontranten nicht reingelassen und werden deswegen
boykottiert
(Starbucks verteilt jetzt umsonst Essen, aber das ist den Leuten egal,
die
vergessen die 1. Nacht nicht). Sogar die Fillialen dieser
boykottierten
Restaurants in der Schickimicki-Straße von Etiler (!) sind leer! Das
hätte
keiner gedacht, dass sogar die satten Menschen so breit an diesem
Protest
teilnehmen würden, alle sind überrascht und voller Hoffnung, viele
erfahren
zum ersten Mal, dass man durch Zusammenschluss und politisch
aktif-werden
etwas bewegen kann. WAHNSINN!!!
Dies ist ein Volksaufstand, der über soziale Medien ins Rollen
gekommen ist
ohne eine Gruppe, eine Partei oder eine Person als Anführer. Je mehr
Videos
und Bilder um die Welt gehen, desto wirkungsvoller. Je mehr Beweise
von
polizeilicher Gewalt existieren, umso besser.
Ich möchte euch bitten, so viele Informationen wie möglich
weiterzugeben, so
viele Proteste wie möglich zu organisieren, um die deutsche Regierung
zu
einer Stellungnahme zu drängen. Je mehr die Öffentlichkeit in der Welt
darauf aufmerksam wird, je mehr Regierungen von anderen Ländern
Erdogans
Vorgehen kritisieren (oder ihm sogar den Empfang verweigern wie der
marokkanische König Mohammed VI), desto größer wird der Druck auf
Erdogan
werden, seinen Kurs zu ändern.
Gestern Nacht wurden 16 Menschen in Izmir festgenommen, wegen der
Nachrichten, die sie auf Twitter gepostet haben. M. und ich haben
unsere
Videos von Sonntagnacht und alle Kommentare, an denen man erkennt,
dass wir
auch da waren, wieder rausgenommen, aus Angst festgenommen zu werden.
Ich
denke zwar nicht, dass die Polizei die 1000en von Menschen wird
festnehmen
können, aber wenn jemand wie ein Organisator (oder aus Sicht der
Polizei ein
"Aufhetzer") schreibt, versuchen sie, diejenigen festzunehmen. Der
Sinn
dieser Festnahmen ist natürlich genau das: Angst machen.deswegen
möchte ich
eigentlich ohne Angst weiter berichten, was hier passiert.
Ich könnte noch ewig so weiterschreiben, ich bin total überwältigt,
erschöpft und emotionsbeladen, könnte immer jeden Moment anfangen, zu
weinen
aus Wut und Ergriffenheit. Leitet diesen Brief gerne weiter, danke