Erdoğans Wahlkampf: Am besten, es bleibt in der Familie
Präsident Erdoğan möchte die Familie gesetzlich schützen. Der Wahlkampf ist also eröffnet, auf dem Rücken von Frauen und Queers.
W ann immer über den „Schutz von Familien“ diskutiert wird, ist Unheil im Anmarsch. Niemand fordert die Sicherung dieser Institution ohne Hintergedanken, denn niemand müsste es. Schließlich wird die Familie ohnehin überall auf der Welt geschützt: Staat, Gesellschaft, Religion, sie alle berufen sich auf Familie als ideale Form des Zusammenlebens. Ideal vor allem natürlich für die Erhaltung einer patriarchalen Ordnung. Doch wer schützt die Menschen eigentlich vor ihren eigenen Familien?
In der Türkei sind es vor allem feministische Selbstorganisationen und queere Vereine, die der Regierung seit Jahren schon ein Dorn im Auge waren. In diesen Tagen dürfte sich ihre Lage drastisch verschlimmern, denn Präsident Erdoğan hat ein neues Herzensprojekt: In einer Rede anlässlich des 99. Jahrestags der Gründung der Republik sagte Erdoğan am Montag, mit einer Verfassungsänderung wolle er die Familie gesetzlich stärken und die Rechte von Frauen schützen, die ein Kopftuch im öffentlichen Dienst tragen wollten. Der Wahlkampf für die im nächsten Jahr anstehenden Parlamentswahlen ist also eröffnet – auf dem Rücken von Queers und Frauen.
Seit dem Sommer schon betreibt die AKP-Regierung eine regelrechte Hetzkampagne gegen die LGBTIQ-Community des Landes. Nicht, dass die Regierung zuvor besonders queerfreundlich gewesen wäre, doch ist schon auffällig, mit welcher Vehemenz in den vergangenen Monaten eine queere Weltverschwörung proklamiert wurde, die eine Bedrohung für muslimische Werte und die traditionelle Familie darstelle. Klingt nicht besonders neu, kennt man von jedem rechtskonservativen Regime aus Osteuropa. Doch dürfte es kein Zufall sein, dass der türkische Präsident sich in Zeiten einer Inflationsrate von 86 Prozent (nach offiziellen Angaben, die Dunkelziffer dürfte höher liegen) auf das billigste Thema stürzt, mit dem sich konservative bis radikal-islamistische Teile der Gesellschaft mobilisieren lassen.
Interessantes Timing
Das Timing für den Plan einer vermeintlichen Stärkung der Rechte kopftuchtragender Frauen ist ebenfalls interessant. Während im benachbarten Iran der Mord an Zhina Amini, die die Verschleierungsvorschriften missachtete, einen Massenaufstand auslöste, der bereits in die achte Woche geht, möchte die türkische Regierung mehr Frauen mit Schleier im öffentlichen Dienst sehen. Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen wurde erst unter der AKP schrittweise aufgehoben, nun soll es per Verfassung ein Recht auf Verschleierung geben. Selbstverständlich sollte in einer Demokratie allen Frauen dieses Recht zustehen. Wenn eine Regierung aber seit Jahren mit der Einschränkung und Abschaffung von Demokratie und Freiheiten beschäftigt ist, sollte man einem solchen Plan mit größter Vorsicht begegnen.
Den Ausstieg der Türkei aus der Istanbuler Konvention hatte Erdoğan letztes Jahr damit begründet, das Land habe ausreichend Gesetze, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Das steht in Widerspruch zu den explodierenden Zahlen von Femiziden im Land. Frauenrechtler_innen kritisieren seit Jahren, dass Behörden Gewalt gegen Frauen nicht ernst genug nehmen und Täter wegen guter Führung nach wenigen Jahren wieder freikommen.
Dringend gebraucht werden also Maßnahmen, die Frauen besser davor schützen, von ihren Ehemännern, Ex-Freunden und Brüdern abgeschlachtet zu werden, und nicht von Männern geführte Scheindebatten über das Recht auf Verschleierung. Was diese hassschürenden Ablenkungsmanöver aber am Ende nicht verschleiern können, sind die Zahlen. Zuletzt war die Inflationsrate vor über zwanzig Jahren so hoch, kurz bevor die AKP ihren allerersten Wahlsieg hatte. 2023 sind wieder Wahlen, vielleicht schließt sich damit ein Kreis.
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