»Er hat für uns zu viel erreicht«

■ taz-Umfrage: Wie stehen die BerlinerInnen nach dem Einmarsch in Litauen zu Gorbatschow?

Mitte. Die Rote Armee ist in Litauen einmarschiert und hat entgegen Gorbatschows Versprechen doch Gewalt angewendet. Bei der Besetzung der Sendezentrale des litauischen Rundfunks fielen Schüsse. Wenn der sowjetische Präsident morgen nun nach Berlin zum Staatsbesuch käme, würden Sie ihn trotzdem mit Applaus begrüßen oder gegen ihn auf die Straße gehen?

Dirk Lecher, 27, Seemann, Köpenick: Na auf alle Fälle würd ick applaudieren. Wat wär denn sonst aus Deutschland geworden, wenn Gorbatschow nicht wär?

Bärbel Brauer, 46, Chemielaborantin, Friedrichsfelde: Gorbatschow hat für uns zu viel erreicht — speziell für uns Deutsche. Zum Einmarsch hat er wohl sein Ja-Wort gegeben, aber es ist umstritten, ob er den Schießbefehl gegeben hat.

Werner Gergeid, 31, Soziologe, Marburg an der Lahn: Wenn er den Einsatz in Litauen in dieser Art und Weise befürwortet haben sollte, dann ist es eine Konzession an die Konservativen und die Armee. Wenn er weiter solche Konzessionen macht und ihm diese Kräfte weiter Steine in den Weg schmeißen, befürchte ich, ist es mit Perestroika und Glasnost bald vorbei.

Hella Rymarowicz, 58, Russisch- Lehrerin, Marzahn: Ich finde es auf keinen Fall gut, was er gemacht hat. Ich bin sehr erschrocken darüber.

Rudolph Kasbrick, 55, Elektroingenieur, Köpenick: Ich nehme an, die Armee wird ihn gar nicht gefragt haben. Ich muß Schewardnadse beglückwünschen — er trat ab, als er sah, daß die Sache nicht mehr dahin gehen würde, wo sie hingehen soll.

Thomas Blessow, 19, Student, Friedrichshagen: Gorbatschow ist in der Zwickmühle. Einerseits muß er das Land zusammenhalten, sonst haben wir alle verloren, und andererseits haben die sowjetischen Republiken auch das Recht, etwas eigenes zu machen.

Björn Schwarzenholz, 23, Student, Lichtenberg: Gorbatschow würde nicht nach Berlin kommen — der ist doch gar nicht mehr an der Macht. Aber er soll kämpfen, bis er gestürzt wird.

Jörg Fitzal, 28, Mitte: Gorbatschow hat auf jeden Fall Schwierigkeiten, seine Vorstellungen von Perestroika und Glasnost im Politapparat durchzusetzen. Aber wir müssen ihn unterstützen, wie er uns eben auch unterstützt hat. Umfrage: diak