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„Er begann alles anzufassen“

Die Regisseurin Athina Rachel Tsangari erzählt in ihrem „Punk“-Film „Harvest“ von einer verschwindenden Natur. Im Gespräch berichtet sie vom Drehen mit einem unbändigen Hauptdarsteller

Scheinbar intakte Landidylle: Die Dorfgemeinschaft in „Harvest“ beim Feuerlöschen Foto: Mubi

Interview Thomas Abeltshauser

Ein scheinbar idyllisches Dorf in den schottischen Highlands. Die Menschen leben im Einklang mit der Natur. Bis eine Scheune brennt. Und Fremde in den Ort kommen und Ansprüche stellen, an denen die Gemeinde zugrunde geht. Die griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari („Attenberg“) erzählt in ihrem ersten englischsprachigen Film „Harvest“ eine postapokalyptische Westernparabel über Landnahme und den Ursprung von Industrialisierung und Kapitalismus. Im Gespräch erzählt die 58-Jährige von kreativem Chaos, kollektivem Arbeiten und ihrem unbändigen Hauptdarsteller.

taz: Frau Tsangari, Ihr Film „Harvest“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jim Crace, der 2013 erschien und für den Booker Price nominiert war, aber bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Erinnern Sie sich, wann Sie ihn entdeckt haben und was er in Ihnen ausgelöst hat?

Athina Rachel Tsangari: Der Roman wurde mir von meinen Pro­du­zen­t*in­nen empfohlen. Eigentlich adaptiere ich keine fremden Stoffe, meine bisherigen Filme beruhen auf Drehbüchern, die ich selbst geschrieben habe. Aber sie ahnten wohl, dass ich in dem Roman sehr Persönliches entdecken würde. Die Adaption war dann wie ein Geschenk mitten in der Pandemie, die ich mit meinem Mann auf einer kleinen Insel in Griechenland verbrachte, ein kleiner Felsen mitten in der Ägäis. Dort habe ich darüber nachgedacht, was es bedeutet, in der Einöde Schottlands zu leben, abgeschnitten von der Welt außen herum. Und dann plötzlich Fremde auftauchen und sich alles verändert.

taz: Inwieweit haben Sie sich den Stoff zu eigen gemacht?

Tsangari: Es ist kein gewöhnliches Buch und es bietet sich nicht für eine klassische Adaption an. Ich wusste zunächst nicht, was ich damit anfangen soll, das ländliche England war weit weg von meinem Leben. Der Roman ist als innerer Monolog erzählt, eine Art Bewusstseinsstrom. Walter Thirsk ist allwissender Erzähler, der gleichzeitig passiv beobachtende Hauptfigur ist, die Definition eines Antihelden. Jemand, der sich schuldig fühlt für seine Untätigkeit, für das Miterleben des Endes eines Paradieses, damit konnte ich mich identifizieren. Diese Dorfwelt wird innerhalb einer biblischen Woche komplett ausgelöscht. Ich wollte es wie eine Fabel erzählen, mit Gesichtern, in denen man den Wechsel von Unschuld zu Verlust und mangelndem Verantwortungsbewusstsein und Widerstand sieht. Auch wenn ich mich dagegen wehre, einen Film auf eine Botschaft zu reduzieren. Freiheiten habe ich mir vor allem bei den weiblichen Charakteren genommen. Im Roman werden die Frauen Opfer dieser patriarchalen Welt und ihrer Gewalt. Ich wollte, dass sie in dieser Gemeinschaft von Feiglingen kämpferisch und taff sind. Und vieles hat sich noch mal verändert, als ich die Besetzung und die Drehorte hatte und wir anderthalb Monate vor Ort zusammenlebten, probten und die Figuren entwickelten.

taz: Wie sah das konkret aus?

Tsangari: Es war ein langer, kollektiver Prozess. Ich komme vom Theater und habe hier wie bei einer Bühneninszenierung gearbeitet. Auf diese Art arbeite ich aber schon immer, bei „Attenberg“ und „Chevalier“, selbst bei der Miniserie „Trigonometry“ konnte ich ausgiebig proben. Der Film entwickelte so ein Eigenleben. Jede Person wusste, was sie zu tun hatte, und wir konnten leichter auf kurzfristige Komplikationen reagieren: Budgetkürzungen ein paar Tage vor Drehbeginn oder auch auf plötzliche Wetterwechsel, weil wir ja fast nur draußen drehten. Auf eine stille Weise war es eine sehr effiziente Art zu arbeiten, wie eine Maschine inmitten der Natur.

taz: „Maschine“ klingt in diesem Zusammenhang überraschend, weil sich der Film so organisch und fast wie gelebte Erfahrung anfühlt. Vor allem Ihr Hauptdarsteller Caleb Landry Jones wirkt darin schwer zu bändigen, wie ein freies Radikal.

Tsangari: Er war völlig unkontrollierbar! Caleb hat nicht zweimal dasselbe gemacht. Wir wussten zwar vorher, dass er sich mit jeder Zelle seines Körpers dieser Methode verschreibt, trotzdem haben wir uns immer wieder in die Haare gekriegt. Diese Kämpfe waren für uns beide sehr fruchtbar. Richtig streiten kann man nur mit jemandem, der respektiert, was man tut.

taz: Gleich zu Beginn sehen wir Walt, wie er durch die Natur streift und alles anfasst und schmeckt, an einer Baumrinde lutscht. Warum war es so wichtig, einen taktilen Film zu machen?

Tsangari: Es war unmöglich, ihn nicht zu einem taktilen Film zu machen, denn das ist der Kern der Geschichte. Die Verbundenheit zur Natur, die gestört wird. Es war auch die erste Szene, die wir gedreht haben. Sie entstand spontan bei den langen Spaziergängen mit Caleb, auf denen wir uns gemeinsam vorbereiten. Ich zeigte ihm die Orte, die ich recherchiert hatte, die Natur und Vegetation. Und er reagierte intuitiv darauf, begann alles anzufassen, zu schmecken. Da hatte ich die Idee, seine Figur im Film so einzuführen. Wir sind ihm einen Tag lang einfach nur mit der Kamera gefolgt und haben festgehalten, was er macht. Nachdem ich ihm das Drehbuch geschickt hatte und wir uns in Los Angeles getroffen haben, war das Einzige, was er sagte: „Athena, bring mich so früh wie möglich hin. Ich will den Dreck unter meinen Fingernägeln haben.“ Er wollte tief eintauchen, in dem Dorf leben, das wir in den schottischen Highlands für den Film aufbauten. Freundete sich gleich mit den Bauern der Gegend an, half beim Schafehüten, schnitzte sein eigenes Essbesteck aus Holz, machte sich eins mit dieser Landschaft.

taz: Wo in Schottland haben Sie gedreht?

Foto: Mubi
Athina Rachel Tsangari

Die Regisseurin Athina Rachel Tsangari wurde 1966 in Athen geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften in Thessaloniki, Performance in New York und Regie in Austin. Ihr zweiter Spielfilm, „Attenberg“ (2010), lief in Venedig im Wettbewerb, ebenso wie „Alpen“ ein Jahr später. Ihre Komödie „Chevalier“ feierte 2015 Premiere in Locarno.

Tsangari: Es war im westlichen Teil des Landes, Argyllhire, in der Nähe von Oban. Ich wollte keine englische Landschaft wie im Roman, sondern etwas Ursprünglicheres, Schrofferes. Man sollte nie genau wissen, ob es im 17. Jahrhundert spielt oder die Dorfbewohner heutige Aussteiger sind. Mit unserem Produktionsdesigner, dem Kostümbildner und dem Kameramann war sofort klar, dass es kein historischer Film werden würde, sondern dass wir es als eine moderne Welt betrachten würden. Es ist eine zeitlose Geschichte ist, die immer wieder vorkommt, in Griechenland in Alabama oder anderswo.

taz: Seit der Premiere in Venedig vergangenen September scheint der Film noch relevanter geworden zu sein, in der Art, wie Sie über eine Welt sprechen, die vor unseren Augen verschwindet.

Tsangari: Wir haben den Film gemacht, weil er auch von unserer Gegenwart handelt. Es geht nicht um England im Mittelalter. Es ist eine Geschichte, die gerade jetzt überall passiert, in jeder einzelnen Ecke der Welt, und ich werde jetzt nicht über die „Top-Hits“ sprechen, die wir alle kennen, die gewaltsame Indus­trialisierung und Landnahme in Afrika oder die Entwicklungen in Europa, Lateinamerika und den USA. Ich identifiziere mich mit Quill, dem Kartografen. Als Künst­le­r*in­nen sind wir Teil des Systems und es ist eine Gefahr, sich nicht durch passives Dulden schuldig zu machen, nicht der Anfang vom Ende zu sein. Deswegen sind mir am Set horizontale Strukturen wichtig. Ich besetze jede Person selbst, von den Dar­stel­le­r*in­nen bis zu den Technikleuten. Ich kenne sie alle persönlich, bevor wir überhaupt zu arbeiten beginnen. Das ist für mich ein politischer Akt, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die dieselbe Vision von der Welt haben. Ich bin als Anarchistin aufgewachsen. „Harvest“ ist ein Punk-Film. Ich fördere das kreative Chaos und die Anarchie und fühle mich darin sehr zu Hause.

„Harvest“. Regie: Athina Rachel Tsangari. Mit Caleb Landry Jones, Harry Melling u. a. Vereinigtes Königreich/Deutschland/Griechenland/Frankreich/USA 2024, 131 Min.

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