: Episoden an der Heimatfront
Bernhard Schlink rafft sich noch einmal zu einem RAF-Roman auf. Doch wozu? „Das Wochenende“ heißt das Buch
Der letzte RAF-Terrorist ist hoch hinausgekommen. Doch ausgerechnet am 11. September 2001 wird ihm plötzlich der Boden unter den Füßen heiß. Kein Wunder, er steht im Dachgeschoss des brennenden World Trade Center. Lautet das alte Motto nicht „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“? Kurz entschlossen springt er aus dem Fenster in die Tiefe. Der Deutsche Herbst endet am Pflasterstrand des East River. Tolle Story, doch leider erfunden. Die Erfinderin ist selbst eine Romanfigur. Hinter ihr steht Bernhard Schlink. In seinem neuen Roman, „Das Wochenende“, erzählt der dichtende Jurist zunächst die Geschichte von Jörg, dem ehemaligen RAF-Kämpfer. Direkt nach der Begnadigung durch den Bundespräsidenten trifft der Mittfünfziger in einer brandenburgischen Villa auf Angehörige und Freunde: Die ersten 48 Stunden in Freiheit werden zu einem Wechselbad der Gefühle zwischen fürsorglicher Belagerung und Peergroup-Purgatorium.
Die alten Freunde haben sich im Leben längst arrangiert: Henner ist Journalist, Ulrich Geschäftsmann, Karin Bischöfin. Alle möchten sie helfen, doch sie verlangen auch Antworten: „Dafür sind Treffen alter Freunde da – man redet über die alten Zeiten und erzählt sich, was man seitdem gemacht hat.“ Also in diesem Fall: „Banken überfallen, Leute umbringen, Terrorismus, Revolution und Gefängnis“. Man lauscht gespannt, doch der Romanheld hat nach 24 Jahren Haft keine Botschaft mehr. Erstaunt erfahren die Anwesenden den Anlass für das Gnadengesuch. Jörg hat Krebs im Endstadium: „Ich wollte noch mal leben, den Wald riechen und den nassen Staub, mit offenem Schiebedach über die kleinen französischen Landstraßen fahren, ins Kino gehen, mit Freunden Pasta essen und Rotwein trinken.“
Es bleibt der grauhaarigen Lehrerin Ilse vorbehalten, sich einen anderen Terroristen zu erträumen. Das Material schöpft sie aus der Biografie des Exmannes ihrer Schwester, der unter mysteriösen Umständen in Frankreich ums Leben gekommen ist. Hat er seinen Tod nur vorgetäuscht, um in die Illegalität abzutauchen? Ilse fängt an zu schreiben. In der kursiv gesetzten Binnenfiktion verdichten sich die Wunschträume zum metabiografischen Terrordrom, dessen blutige Spur von 1977 bis Nine Eleven reicht.
Doch wie soll man sich zum realen Terroristen verhalten, wenn kein Klischee mehr greift? Erschwert wird die Positionierung zudem durch familiäre und freundschaftliche Bindungen. Ein Dilemma, das Schlink schon in seinem Bestsellerroman „Der Vorleser“ (1995) in Szene gesetzt hatte. Gerade die menschliche Nähe zu den Schuldigen macht, so findet der Autor, das Geschehene so furchtbar: „Wir hätten doch mit den Tätern schon längst abgeschlossen, wenn es wirklich alles Monster wären, ganz fremd, ganz anders, mit denen wir nichts gemein haben.“
Doch das inszenierte Aufweichen der Erinnerungsfronten stieß im Feuilleton übel auf, mal ganz abgesehen davon, dass man Schlink stilistisch in die epigonale Ecke stellte. Jetzt meldet sich der Winkelliterat publizistisch zurück, während man in den Feuilletons die Achtundsechziger gerade in einem Atemzug mit den 1933ern nennt. Die Linksfaschismus-These legt Schlink dem Sohn des Terroristen in den Mund: „Ihr habt euch über eure Elterngeneration aufgeregt, die Mörder-Generation, aber ihr seid genauso geworden.“ Doch damit steht der Sprössling genauso isoliert da wie ein jugendlicher Sympathisant, der den RAF-Vater schon für neue Guerillaaktionen einplant: „Zusammen mit den muslimischen Genossen könnten wir wirklich was reißen.“
Ohne Dschihadisten geht auch im RAF-Roman gar nichts mehr. Wen wundert’s: Der deutsche Herbst war ohnehin schon lange vor Schlink zu Ende erzählt, ob blutig, medium oder well done. Krimiautoren wie Lars Becker oder Michael Wildenhain brauchten in den Neunzigern kaum 100 Seiten bis zum finalen Shootout zwischen Verrätern und Getreuen. Der Rest ist beredtes Schweigen. Ulrich Peltzer inszenierte unlängst in seinem Roman „Teil der Lösung“ das Zusammentreffen der Attac-Generation mit dem Linksterrorismus der Siebzigerjahre, hielt sich dabei aber lieber an das Original: die italienischen Brigate Rosse. Baader/Meinhof sind selbst bei Schlink nur noch in Verbindung mit dem Bush-Bin-Laden-Komplex relevant. Nicht umsonst betont am Ende ein fiktiver Bundespräsident in seiner Begründung für die Begnadigung des letzten RAF-Kämpfers, vor uns stünden ganz neue Bedrohungen, „auch terroristische, denen wir befriedet und versöhnt begegnen wollen“. Der rote Stern verblasst zu einer Episode an der Heimatfront. Umso heller strahlt der Halbmond überm Hindukusch.
ANSGAR WARNER
Bernhard Schlink: „Das Wochenende“. Diogenes, Zürich 2008, 226 Seiten, 18,90 Euro