Entwickeln von Super-8-Filmen: Die Rollen ihres Lebens
Dagie Brundert ist die Letzte in Deutschland, die abgelaufene Super-8-Filme entwickelt. Auf ihrem Klo. Und sie hat gut zu tun.
Auf Dagie Brunderts Klo bekommen tote Bilder noch eine Chance. Hier ist ihre Dunkelkammer, hier entwickelt sie Super-8-Rollen, die jahrzehntelang in irgendwelchen Kellern verstaubten. Das letzte professionelle Labor mit Farb-Umkehr-Entwicklung schloss 2006 in Lausanne in der Schweiz. Zu kompliziert, zu wenig rentabel ist der Vorgang, für den man den Film in 13 Chemiebäder tauchen muss. Jetzt gibt es nur noch Dagies Toilette. Sie ist die Letzte in Deutschland, die noch abgelaufene Super-8-Filme entwickelt.
Super 8 war der Film, mit dem Väter Familienfeste filmten. Es war der Amateurfilm, eine Rolle ist 15 Meter lang, 8 Millimeter breit, etwa drei Minuten Film passen darauf. Die Industrie dreht auf größeren Rollen. Erfunden wurde der Super 8 von Kodak, dem damals größten Filmhersteller der Welt. Weil Super 8 günstiger war als professioneller Mittelformatfilm, arbeiteten viele KünstlerInnen mit dem Format. Deshalb landete der Super-8- Film zum ersten Mal in Dagie Brunderts Kamera.
Die 59-Jährige sitzt am Arbeitstisch in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Sie hat Tee gekocht, dazu gibt es Wasser mit Ingwergeschmack. Ihre Wohnung ist hell, hohe Decken, große Fenster. Vieles ist bunt hier, die Kronleuchter an der Decke, die Trinkgläser, die Stühle, ihr Lidschatten. Auf dem Boden neben Brunderts gelbem Stuhl stehen eine blaue und eine grüne Kiste. In ihnen sind die rund fünfzig Super-8-Filme, die sie in ihrem Leben gedreht hat. „Hier ist mein ganzes Leben drin“, sagt sie.
Eigentlich kommt Dagie Brundert aus Bielefeld, aber es waren die Neunziger und Berlin die coolste Stadt der Welt. Sie studierte an der Universität der Künste und hörte sich eine Vorlesung über Experimentalfilm an. „Wir kauften drei Rollen Film und legten einfach los“, sagt Brundert. Ihr erster Film hieß „23 Barbiepuppen kippen um“.
Die Freien Berliner Ischen
„Ich bin mit einer Freundin zu Woolworth gegangen, wir hatten genau 23 Mark“, sagt Brundert über ihren ersten Film. „23 Barbies konnten wir uns davon kaufen. Das waren die ganz billigen, bei denen man nicht mal richtig die Arme bewegen konnte.“ Die Freundin warf die Barbiepuppen nacheinander um, Brundert filmte alles. Der Film ist heute ein Klassiker in der Super-8-Szene.
Kurz nach dem Mauerfall gründete Dagie Brundert mit zwei Filmerinnen aus der DDR ein Filmkollektiv, das FBI – die „Freien Berliner Ischen“.
„Ab da wurde es wild“, sagt sie. Die Freien Berliner Ischen zeigten in der Großen Präsidentenstraße Nummer 10 am Hackeschen Markt experimentelle Super-8-Filme und veranstalteten Kunstperformances. 5 Mark Eintritt, die Einladungen wurden per selbstgedruckten Postkarten verschickt. Ein paar Jahre ging das so, dann löste sich das FBI auf. „Wie jede gute Popband haben wir uns irgendwann zerstritten“, sagt Brundert. Seitdem filmt sie nur noch alleine.
Mitte der Neunziger erfand die Industrie das digitale Bild. Das war’s dann für Super 8. Auf einmal konnte man so lange filmen, wie der Speicher reichte, und hatte direkt ein Bild – ohne Labor. Der Umsatz von Super-8-Filmrollen brach ein, die Firmen stiegen um. Die Labore schlossen ihre Tore. Nur Dagie Brundert nicht. „Ich hab immer weiter Super 8 benutzt, ich mag die entschleunigte Art des Filmens daran“, sagt sie. „Du musst dir genau überlegen, was du filmst, weil du nur 15 Meter hast.“
Irgendwie musste sie ihre vollen Filmrollen ja sichtbar machen. Weil die Labore zu hatten, brachte sich Brundert das Entwickeln der Filme selbst bei. Bis vor ein paar Jahren tat sie das nur für ihre eigenen Filme. „Ich dachte eine Zeit lang, ich bin die Einzige, die sich noch für Super 8 interessiert“, sagt sie. Dann, vor drei Jahren ungefähr, fing es an. Immer mehr Menschen meldeten sich, weil sie jemand suchten, der alte Super-8-Filme entwickeln kann.
Sehnsucht nach echten Bildern
Dass wieder auf Super 8 gedreht wird, merkt nicht nur Dagie Brundert. Super-8-Tutorials haben auf Youtube Millionen Klicks. Bei Ebay sei im letzten Jahr alle 15 Minuten ein Artikel mit der Bezeichnung „Super 8“ verkauft worden, schreibt ein Sprecher der Plattform auf Anfrage der taz. Mit Super 8 wurde ein Umsatz von rund 1,5 Millionen Euro generiert.
Auch die Industrie merkt, dass Super 8 wieder gefragt ist. 2016 stellte Kodak auf einer Messe in Las Vegas eine neue Super-8-Kamera vor – 1982 hatte der Hersteller die Produktion der Kameras eigentlich eingestellt. Kodak bietet mittlerweile auch wieder Filmkassetten an, die man bei ausgewählten Laboren entwickeln lassen kann.
Aber die alten, abgelaufenen Rollen, die macht nur Dagie Brundert. „Niemand weiß, wie viele tote Bilder unentwickelt in irgendwelchen Kellern liegen“, sagt sie. „Ich hoffe, jeder abgelaufene Film findet noch den Weg zu mir, sodass ich ihn sichtbar machen kann.“
Filmmaterial ist Chemie und die läuft, wie Lebensmittel, irgendwann ab. Normalerweise können Filme nur circa fünf Jahre lang entwickelt werden. Dann reagiert die Chemie beim Entwicklungsprozess nicht mehr und man bekommt einen Haufen matschige Bilder. Wenn man die Rollen im Kühlschrank aufbewahrt, dann verlängert sich die Lebenszeit. Teilweise bekommt Brundert Rollen geschickt, die seit 50 Jahren abgelaufen sind. Wenn sie kühl sind, weiß sie, dass vielleicht noch etwas in ihnen steckt.
Dass Brundert selbst die ältesten Bilder zum Leben erwecken kann, sprach sich in der Super-8-Community herum. Außer ihr gibt es nur zwei Personen auf der Welt, die das noch können, einen Mann in Kanada und einen in den Niederlanden. Mittlerweile hat Brundert so viele Filme in ihrer Wohnung, dass man drei Monate auf die Entwicklung warten muss.
Chemie auf dem Klo
Warum interessieren sich junge Menschen, die mit Smartphones aufgewachsen sind, für ein Medium, das eigentlich ausgestorben ist? „Wenn du den ganzen Tag auf ein Display schaust, dann hast du große Sehnsucht nach einem Bild, das anders aussieht“, sagt Brundert dazu.
Super 8 mit seiner Unperfektheit, den Kratzern und den Laufstreifen im Bild, sei eine Gegenbewegung zum hochauflösenden 4K-Bild, das wir alle von Netflix gewohnt sind. „Es kann nicht immer alles perfekt sein“, sagt Brundert. „Du kannst nicht jeden Tag die beste Pizza der Welt essen. Irgendwann hast du auch mal Bock auf ein Mettbrötchen mit Zwiebel.“
Brundert geht durch ihre Wohnung, die Dielen knarzen unter ihren Ballerinas mit Leopardenprint. Sie muss immer wieder den Kopf einziehen, überall hängt etwas von der Decke: eine kleine Discokugel, ein Filmstreifen oder eine Laterne mit chinesischen Schriftzeichen. Brundert steht jetzt dort, wo die Magie passiert: auf ihrer Toilette.
Auf einer Arbeitsplatte neben der Kloschüssel stehen PET-Flaschen mit chemischer Entwicklungsflüssigkeit. An einer Wäscheleine hängt ein Filmstreifen zum Trocknen. „Das hier ist ein Orwo, ein fünfzig Jahre alter Film aus der DDR“, sagt sie. „Die Besitzerin hat ihn im Keller ihrer französischen Tante gefunden.“ Sie nimmt den Filmstreifen in die Hand und hält ihn in das Licht einer kleinen Lampe. „Hier sieht man Menschen, die vor fünfzig Jahren gefilmt wurden.“
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Die Entwicklung des Films läuft in völliger Dunkelheit ab. Wenn das Material nur eine Sekunde Licht bekommt, ist es zerstört. Brundert steht jeden Abend in völliger Dunkelheit in ihrer Toilette und fädelt 15 Meter Film ein, taucht ihn in verschiedene chemische Bäder und hängt ihn dann auf.
Super 8 schenkt ihr die Freiheit
Ihre Website ist wie ihre Wohnung, durcheinander und bunt. Anstatt der Sprachauswahl hat sie ein Bier für Deutsch, ein Baguette für Französisch und einen Hamburger für Englisch gemalt. „Ganz ohne Digital kann ich nicht“, sagt sie „trotz all dem, was ich an analog geil finde, bin ich genau so mit meinem iPhone verwachsen wie alle anderen auch.“ Alle ihre Super-8-Filme und Kunstprojekte lässt sie digitalisieren und stellt sie dann auf Youtube.
Mittlerweile gibt Dagie Brundert Kurse und bringt Menschen bei, wie man auf Super 8 dreht. „Tante Dagie erklärt den Film“, nennt sie das. Mit der Entwicklung und den Kursen verdient sie inzwischen so viel Geld, dass sie vor zwei Jahren ihren Job als Grafikerin bei einer Berliner Tageszeitung kündigen konnte. „Der Super-8-Film hat mir nach all den Jahren die Freiheit gegeben, endlich fulltime Künstlerin zu sein“, sagt sie. „Solange es noch genug alte Super-8-Filme gibt, muss ich nie wieder etwas anderes arbeiten.“
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