Entlassung von Sicherungsverwahrten: Aber nicht in meinem Wahlkreis
Der Sicherungsverwahrte Hans-Peter W. wird nach 29 Jahren aus der Haft entlassen. Die Medien hetzen ihn quer durchs Land. In einer therapeutischen Einrichtung ist er noch immer nicht.
HAMBURG taz | Ganz sonderbare Dinge seien da geschehen, sagt Guntram Knecht, der Leiter der forensischen Abteilung der Hamburger Psychiatrie in Ochsenzoll. Die sonderbaren Dinge, die man auch eine Reihe von Lügen nennen könnte, haben sich nach der Entlassung des früheren Sicherungsverwahrten Hans-Peter W. zugetragen.
Sie haben dazu geführt, dass W., dem ein Gutachter vor der Entlassung eine negative Prognose ausgestellt hat, noch immer keinen Therapieplatz gefunden hat. Sie haben dazu geführt, dass die Politiker, die sich mit W. befassen, viel Zeit damit verbringen, die Boulevardmedien zu beruhigen. Dabei haben sie wenig Erfolg. Schließlich schüren ihre Kollegen das Feuer.
Keine positive Prognose
1980 wird Hans-Peter W., gelernter Maurer, aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen Sexualstraftaten inhaftiert war. Drei Wochen später missbraucht der damals 23-Jährige eine Spaziergängerin, dann vergewaltigt er eine Frau vor den Augen ihres Sohns. Man verurteilt ihn wegen der besonderen Brutalität der Taten zu sieben Jahren und neun Monaten Haft, anschließend kommt er in Sicherungsverwahrung.
Die unbefristete Sicherungsverwahrung für gefährliche Straftäter im Anschluss an ihre eigentliche Haftstrafe wurde in Deutschland 1998 eingeführt. Das Gesetz sah vor, dass die Bestimmungen rückwirkend angewandt werden können. Dagegen wandte sich Ende 2009 der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Es stellte eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und des Verbots rückwirkender Strafverschärfung fest. Die deutschen Vorschriften verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Nachdem im Mai das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) rechtskräftig wird, stellt W. einen Antrag auf Entlassung. Das Gericht hat entschieden, dass Sicherungsverwahrung nicht nachträglich verlängert werden darf - genau das aber war bei W. geschehen.
Er hat nach den knapp acht Jahren Haft weitere 21 in Sicherungsverwahrung verbracht. Am 15. 7. wird er auf Geheiß des Oberverwaltungsgerichts Karlsruhe entlassen. Vermutlich freuen sich außer ihm nur wenige Menschen darüber. Warum sollten sie auch, schließlich hat W. keine positive Prognose.
Doch in der Öffentlichkeit stellt kaum jemand die Frage, wie man mit der Gefahr, die - vielleicht - von ihm ausgeht, am besten umgeht. Stattdessen beginnt eine mediale Jagd, die von den Zeitungen, die sich daran beteiligen, mit dem Gestus selbsternannter Bürgerwehren geführt wird. Es interessiert sie nicht, dass es in England bereits Erfahrungen mit Internetprangern für entlassene Sexualstraftäter gibt. Sie verhindern keineswegs weitere Straftaten.
Die Politik trottet den Medien hinterher und setzt auf Vertreibung und Schuldzuweisungen, die sich in der Regel an die jeweils vorangegangene Station richten. Manchmal stimmen sie, häufiger nicht.
Die ernsthafteren unter den Medien und Kriminologen werfen der JVA Freiburg vor, Hans-Peter W. nicht auf die Entlassung vorbereitet zu haben, obwohl sich seit Ende 2009 das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs abgezeichnet habe.
"Ich gebe zu, wir haben nicht mit einer Blitzentlassung gerechnet", sagt der Leiter der JVA Freiburg, Thomas Rösch. Und fährt fort: "Wir hatten auch keinen Grund dazu." Dann zählt er einige Urteile von Oberlandesgerichten auf, die die Entlassung von Sicherungsverwahrten trotz EGMR-Urteil abgelehnt hätten. Diejenigen, die die Entlassung angeordnet haben, nennt er nicht.
Kurz vor seiner Entlassung legen die Sozialarbeiter der JVA Freiburg W. eine Liste mit möglichen Rehabilitationseinrichtungen vor. Auf entlassene Sicherungsverwahrte spezialisierte Häuser gibt es nicht.
"W. sollte nach Stuttgart", sagt der JVA-Leiter, aber W. wollte nicht zu nahe an seinen früheren Heimatort zurück. Stattdessen entscheidet er sich für ein Pflege- und Betreuungszentrum in Bad Pyrmont.
Als er dort am 15. 7. ankommt, erwartet ihn bereits ein Reporter der Bild-Zeitung. Der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU) schreibt in einer Pressemitteilung, dass es "besonders fatal" sei, dass W. sich in Niedersachsen aufhalten wolle.
Dass Politiker versuchen, mit der Entfernung entlassener Sicherungsverwahrter aus ihren Wahlkreisen zu punkten, ist kein Vorrecht der konservativen Parteien. Landrat Rüdiger Butte (SPD) veranlasst ein Treffen von Polizei, Vertretern der Stadt Bad Pyrmont, Landgericht Hannover, Justizsozialdienst, W.s Bewährungshelfer und dem Betreiber des Betreuungszentrums.
Es geht um die "tickende Zeitbombe", so nennt Rüdiger Butte Herrn W., die Bezeichnung greifen andere Politiker und Polizeigewerkschafter auf. Man kommt überein, dass das Haus in Bad Pyrmont nicht die geeigneten Voraussetzungen für eine dauerhafte Unterbringung von Hans-Peter W. biete.
Angeblich ungeeignet
"Eine interessante Fragestellung", sagt der Freiburger JVA-Leiter Thomas Rösch, wenn man erfahren möchte, wieso man in Niedersachsen die Einrichtung, die seine Mitarbeiter für W. ausgesucht haben, für ungeeignet hält. "Natürlich ist sie geeignet", sagt Rösch.
Er hat das Haus 2009 bei einer bundesweiten Fachtagung im niedersächsischen Justizministerium zum Thema Sicherungsverwahrung kennengelernt. Er habe dann Mitarbeiter aus Bad Pyrmont nach Freiburg eingeladen und mit ihnen über die Möglichkeit gesprochen, entlassene Sicherungsverwahrte bei ihnen unterzubringen.
"Ich habe auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass unsere Sicherungsverwahrten nicht ganz einfach sind", sagt Thomas Rösch. "Ich habe auch Namen genannt." Das Haus in Bad Pyrmont schloss einen Betreuungsvertrag mit Hans-Peter W.
Den kündigte es nach dem Landratsgespräch - nach einer Woche Aufenthalt von W. Laut seinem Anwalt musste W. bereits am nächsten Tag das Haus verlassen. Marcus Rehse, der Geschäftsführer der Sewo GmbH, die das Haus in Bad Pyrmont betreibt, sagt, dass in dieser Geschichte viele Halbwahrheiten im Umlauf seien.
Aber er zeigt wenig Interesse daran, damit aufzuräumen. "Es gab keinen Vertrag mit Herrn W.", sagt er nur. Und: "Unsere Einrichtung ist für einen Mann mit diesem Hintergrund nicht geeignet."
Hans-Peter W. reist weiter nach Hamburg. Er ist an einer Therapie interessiert. Dass das am Druck der Medien liegen könnte, hält der Psychiater Knecht für abwegig. Im Gegenteil: Je mehr Druck von außen komme, desto größer ist die Gefahr, dass der Entlassene instabil werde.
Zunächst lebt W. in einem Mehrfamilienhaus. Bild-Reporter klingeln an seiner Wohnungstür, als er einen Sozialarbeiter erwartet, danach lauern sie ihm im Keller auf. W. geht auf die Journalisten los. Die neuen Nachbarn von W. lassen sich von den Boulevardzeitungen mit Schildern fotografieren, auf denen steht: "Vergewaltiger sollen keine Menschenrechte haben". Kurz danach sucht die Stadt Hamburg eine neue Bleibe für ihn: W. lebt nun in einem alleinstehenden Haus in einem Vorort.
Auf einer von W.s Stationen gibt es ein Hintergrundgespräch zwischen Behörden und Journalisten. Die Behörden erklären, dass W. nur dann eine geeignete Therapieeinrichtung fände, wenn diese nicht vorab öffentlich gemacht würde.
Die Journalisten erklären, dass sie offensiv berichteten, weil sie fürchteten, die Behörden würden ihrer Aufgabe nicht gerecht. Anschließend fragen sie, welche Informationen sie als Gegenleistung für eine gewisse Zurückhaltung bekommen würden.
Die Behörden in Hamburg finden schließlich eine Einrichtung in Reinbek, die W. aufnehmen will. Reinbek liegt in Schleswig-Holstein, aber die Einrichtung hat einen hamburgischen Träger. W. steht kurz vor dem Einzug, doch da schreibt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) dem damaligen Hamburger Innensenator Ahlhaus (CDU) einen Brief.
Hamburg zieht den Plan zurück. Peter Harry Carstensen begrüßt diesen Verzicht in einer unnachahmlichen Wendung als "Ausdruck der guten Zusammenarbeit".
In Hamburg kommentiert man das nicht, die Senatssprecherin verweist lediglich darauf, dass man "nicht überall, wo Herr W. künftig wohnen möchte, nach dem Sankt-Florians-Prinzip verfahren wird".
Sie erinnert daran, dass Herr W. das Bürgerrecht Freizügigkeit besitzt: Er kann dorthin gehen, wohin er möchte. Man hört, dass Hamburg, anders als Niedersachsen, seine vordringliche Aufgabe nicht darin sieht, Hans-Peter W. wieder loszuwerden. Lob erntet die Stadt dafür nicht.
Der Sprecher von Harry Peter Carstensen möchte die Frage, warum die Einrichtung in Reinbek nicht geeignet sei, "nicht erörtern". Er möchte auch nicht die Frage beantworten, ob es von Bedeutung ist, dass Reinbek im Wahlkreis des schleswig-holsteinischen Innenministers liegt. "Jede Einrichtung liegt in irgendeinem Wahlkreis", sagt er.
Es gibt undichte Stellen
Es werden immer wieder Sicherungsverwahrte entlassen. Hans-Peter W. ist nicht der einzige, der trotz schlechter Prognose auf freiem Fuß ist. Manchmal erfährt die Öffentlichkeit davon.
Es heißt, dass es undichte Stellen bei Justizvollzugsanstalten und Staatsanwaltschaften gebe, die finden, dass die Betreffenden besser nicht freikommen. Oder bei der Polizei, die der Rund-um-die-Uhr-Bewachung nicht viel abgewinnen kann. Thomas Rösch von der JVA Freiburg erklärt, dass seine Mitarbeiter sicherlich nicht geplaudert hätten. Mehr will er dazu nicht sagen.
Warum wurde gerade der Fall von Hans-Peter W. publik und damit zum Profilierungsfeld der Landräte, Minister und Ministerpräsidenten, zu einer "Steilvorlage", wie es einer aus dem politischen Umfeld nennt?
"Bloßer Zufall", sagt Guntram Knecht, der Leiter der forensischen Psychiatrie in Hamburg-Ochsenzoll. Aber seitdem die Medien sich W.s angenommen haben, winken in Hamburg viele Einrichtungen ab, wenn sie Menschen wie ihn aufnehmen sollen. Nicht, weil sie nicht mit ihnen arbeiten wollten. Die Gefahr, dass sich die Presse auf sie stürzen könnte, ist ihnen zu groß.
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