: Entflammte Leiber
Der Künstler, der das strahlende Licht Italiens auf den flämischen Alltag gießen konnte: Umfassende Ausstellungen in Lille und Antwerpen präsentieren Rubens, den großen Maler der Gegenreformation
VON BRIGITTE WERNEBURG
Wer in Lille im Abenddunkel vom Bahnhof zur Oper im Zentrum der Stadt strebt, muss glauben, er sei unwahrscheinlicherweise in Schanghai gelandet. Er soll das auch glauben. Das erwarten jedenfalls die Eventmanager, die die Stadt mit den original Telefonzellen, Leuchtreklamen und exzentrischen Lichterbäumchen aus Schanghai voll gestellt haben. Lille ist fest im Griff der Eventmanager. Denn Lille ist Kulturhauptstadt Europa 2004. Und die Verwandlung der nordfranzösischen Provinzhauptstadt in die südchinesische Millionenmetropole ist eben das Werk des Stadtmarketings, das, durch den Ehrentitel und ein bisschen EU-Mittel neu beflügelt, Lille verschiedene „Metamorphosen“, durchlaufen lässt. Welche Rolle aber ausgerechnet dem fernen China bei der Feier Europas zukommt, darüber lässt sich freilich nur spekulieren.
Leichter ist es da schon, zu ergründen, warum Peter Paul Rubens, der große Maler der Gegenreformation, nun im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms in einer prachtvollen Ausstellung gefeiert wird. Europa nennt sich ja heute gerne das Europa der Regionen. Und mit Rubens betont Lille seine durchaus glanzvolle flämische Vergangenheit, die die Stadt noch heute gerne zu ihrem Nutzen und ihrer Selbstbehauptung ins Spiel bringt. Auf dem Eigensinn wider die Zentrale gründet auch das Renommee des Palais des Beaux-Arts und seiner Sammlung, das es dem Kunstmuseum ermöglichte, die große Rubens-Ausstellung mit internationalen Ausleihen zu realisieren.
Lille kam damit Antwerpen zuvor. Hier in Lille, in der Hochburg der katholischen Gegenreformation in den spanischen Niederlanden, hatte sich Rubens’ Geschick als Maler, Humanist und weltgewandter Diplomat entfaltet, war er reich und geadelt worden. Antwerpen, wirtschaftliches wie kulturelles, wenn auch nicht politisches Zentrum des historischen Flandern, hatte für 2005 eine ambitionierte Rubens-Schau geplant, mit der die Stadt ihren Ausstellungszyklus um ihre großen Maler Jacob Jordaens und Anthonis van Dyck abschließen wollte. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Stadt parierte den Schlag mit großzügigen Ausleihen an Lille und klugen Versuchen, Rubens mentalitätsgeschichtlich neu darzustellen.
Das Königliche Museum der Schönen Künste versammelt unter dem Titel „Von Delacroix bis Courbet“ die französischen Rubens-Bewunderer des 19. Jahrhunderts, ein Sammlungsbestand, der in Lille die Räume für die Rubensschau frei machte. Mit Delacroix und Ingres wird noch einmal der alte Streit um das Primat der Farbe versus des Disegno in Erinnerung gerufen, der gleichzeitig auch im nahe Lille gelegenen Arras mit „Rubens contre Poussin“ noch einmal ausgefochten wird. Im Streit von These und Gegenthese zitiert der Katalog Baudelaire als späten Gegner Rubens’. Sein Verdikt freilich, der Maler sei „een fontein van banaliteiten“, eine Quelle der Banalitäten, liest man gerne als eine den aktuellen Umständen geschuldete Invektive, kommt doch eine kaum überschaubare Fülle von Ausstellungen von New York bis Wien, von Lille, Arras bis Braunschweig und Genua, der anderen Kulturhauptstadt Europa 2004, auf uns zu, in denen plötzlich und zeitgleich Rubens wieder entdeckt wird. Nicht Rubens, sehr wohl aber seine Vermarktung könnte in Banalitäten enden.
Er selbst war, was die Nutznießung seines Rufs betraf, keineswegs ungeschickt. Das zeigt „Ein Haus voller Kunst. Rubens als Sammler“, der Versuch einer Rekonstruktion seiner Sammlung im Haus „An der Wapper 9–11“, die mit den besten Sammlungen ihrer Zeit konkurrierte. Zwar leiteten spekulative Interessen nicht vorrangig seine Sammeltätigkeit. Bildung und Prestige waren wesentlichere Momente, die auch in seiner großen Bibliothek zum Ausdruck kommen, die die ehemaligen Druckerei Plantin-Moretus ausstellt. Doch der Verkauf seiner frühen Sammlung antiker Gemmen und Skulpturen, Elfenbeinschnitzereien, eigener Gemälde wie Arbeiten von Tizian und Tintoretto für die sagenhafte Summe vom 100.000 Gulden an den Herzog von Buckingham 1627 brachte ihm eben den Ruf eines gewieften Sammlers und Händlers ein.
Eine zeitgenössische Korrespondenz berichtet von einer bevorstehenden Reise Rubens’ nach Rom und warnt davor, dass er 12.000 Gulden für den Erwerb von Antikem bei sich habe. Die Römer sähen es nicht gerne, dass sie so ihre schönsten Schätze verlören, zumal sie Rubens nur kaufe, um sie später zu höheren Preise weiterzuverkaufen.
Die Reise kam freilich nicht zustande, und Rubens, der zu Beginn seiner Karriere acht Jahre in Italien gelebt hatte, sah nach seiner Rückkehr nach Antwerpen das Land nicht wieder. Als Hofmaler bei Vincenzo Gonzaga, dem Herzog von Mantua, hatte er die antiken und neuzeitlichen Kunstwerke studiert, wobei er von den zeitgenössischen Malern die Behandlung der Farbe und des Lichts, von den antiken Skulpturen aber die Gestaltung der menschlichen Figur übernahm. Seine Zeichnungen nach den antiken Skulpturen ließ er sich später als Buch binden, das in seinem Atelier stets zur Hand war. Seine Sammlung diente ihm und seinen Assistenten vor allem als Vorlage und Studienmaterial und enthielt neben Originalen eine Fülle von Kopien, die Rubens nach Bildern von Tizian, Tintoretto, Veronese und Raffael gefertigt hatte.
Tizian vor allem blieb sein großes Idol. Als Rubens 20 Jahre nach seinem Italienaufenthalt am spanischen Hof erneut auf Werke von Tizian stieß, kopierte er auch diese sofort. Auf jene späte Begegnung will die Kunstgeschichtsschreibung auch Rubens’ zunehmende Konzentration auf sexuell konnotierte Szenarien zurückführen und die prominente Rolle, die der weiblichen Figur in seinen Bildern zukam. Allerdings war dies auch dem Wandel des Zeitgeists geschuldet, von Paris ausgehend spielten die Frauen und ihre Salons im höfischen Leben eine zunehmend bedeutendere Rolle. Doch es war die erneute fruchtbare Konfrontation mit Tizian, die es Rubens erlaubte, sich ab 1630 noch einmal an die Spitze des zeitgenössischen Geschmacks zu stellen.
Tatsächlich beantwortet Fiona Healy, eine der Kuratorinnen, die Frage, was beispielsweise an einem von Rubens überarbeiteten niederländischen Gemälde seiner Sammlung denn nun rubenesk sei, damit, dass er der Mutter im Zentrum des Gemäldes „Die zwölfte Nacht oder Der König trinkt“, das einem Nachfolger Marten van Cleves zugeschrieben wird, eine Brust entblößt. Er war ihr Justin Timberlake, erinnert man den kürzlich entflammten Skandal um die nackte Brust von Janet Jackson. Überhaupt ist die entblößte Brust, aus der Frau gerne Milch zu pressen sucht, ein regelmäßiges Motiv in seinen Bildern. Gleichgültig, ob es sich um Allegorien, antike Szenerien oder religiöse Bilder handelt wie etwa „Der hl. Augustinus zwischen Christus und der hl. Jungfrau“, ein Gemälde aus Madrid, das nun in Lille zu sehen ist.
Skandal machte das damals nicht, auch wenn der hoch geachtete Künstler damit an die Grenzen ging, seine Versöhnung von religiöser Schicklichkeit und schicker Körperanbetung schien den Zeitgenossen glaubhaft. Wie eben die antiken Heroen, die Rubens als christliche Schmerzensmänner malt. Und so irritierte es nicht, dass sein vom Kreuz geholter Christus die gleiche luxuriöse Alabasterhaut besaß, die seine antiken Göttinnen so raffiniert schmückt. Das fällt im großartigsten Raum der Liller Ausstellung auf, in dem drei riesige Altarbilder aus Lille, Valencienne und Cambrai die Kreuzabnahme und Grablegung Christi behandeln. Das festlich-strahlende Rot, in dem das Gewand einer der Figuren stets prunkt, kontrastiert daher weniger mit dem toten, vom Leiden gezeichneten Körper, als man meinen müsste. Es bringt im Gegenteil die Schönheit des geschundenen Leibs noch einmal zur Geltung. Und deshalb schockieren die gewaltigen Hochformate erst recht.
Der Raum steht am Ende einer Passage, die mit Rubens’ italienischen Jahren beginnt, die Chronologie dann aber auflöst zugunsten einer Ordnung nach den Auftraggebern, dem Hochadel, dem wohlhabenden Bürgertum und der in Flandern wie sonst nur im süddeutschen Raum wieder erstarkten katholischen Kirche. Er leitet über zu neun Tapisserien, die in dieser Folge noch nicht gezeigt wurden. Zwar können viele der großen Werke aus dem Louvre oder der Alten Pinakothek in München nicht gezeigt werden, doch die treffende Wahl der 154 Gemälde und 41 Zeichnungen rechtfertigt den schlichten Titel der Schau: „Rubens“.
Der Hofmaler glänzt mit prachtvollen Darstellungen kostbarer Stoffe, thematisch in aufwändigen Allegorien wie ganz materiell bei Seide und Stickereien; der Propagandist der Gegenreformation schwelgt in den Grausamkeiten des christlichen Martyriums wie heute nur noch Mel Gibson im Blut seines Leinwandjesus; und der brillante Porträtist hochmögender Damen wird zum intimen, zärtlichen Maler seiner ersten Frau Isabella Brant. Rubens kann das Licht Caravaggios auf den flämischen Alltag gießen, und es stimmt. Er versteht, die Gegensätze zu versöhnen, und er wollte die Gegensätze versöhnen, darin lag seine Tugend, durchaus geboren aus den Umständen der Zeit, die nach Versöhnung verlangte wie wenige andere. Und so gesehen ist Schanghai womöglich kompatibel mit „Rubens“ und noch nicht einmal eine Banalität.
Bis 14. Juni, Lille, „Rubens“, Palais des Beaux-Arts, Katalog (Belser Verlag) 59,90 €; bis 13. Juni, Antwerpen, „Rubens als Sammler“, Rubenshuis, Katalog 35 €; „Rubens und seine Bibliothek“, Museum Platin-Moretus, Katalog 22 €; „Von Delacroix bis Courbet“, Königliches Museum der Schönen Künste, Katalog 20 €