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Entfesselung, Beherrschung

■ Vor zwanzig Jahren starb Asta Nielsen, der erste Weltstar des europäischen Films — und sein erster Profi

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Film als Massenmedium unaufhaltsam durch: „Von mittags bis Mitternacht wälzte sich ein ununterbrochener Strom an den Schalterklappen der Kinos vorüber, hinter denen das Kleingeld der Millionen die Kassen sprengte.“ Asta Nielsen war der erste Weltstar des europäischen Stummfilms, täglich lockte sie 1,5 Millionen Menschen in die Kinos. Auf dem Berliner Alexanderplatz wurden die Zuschauer an den Premierentagen von berittenen Polizisten in Schach gehalten. Kein seltenes Ereignis übrigens, da die Nielsen, bei einer durchschnittlichen Drehzeit von einer Woche, fast jeden Monat einen Film lieferte.

Überzeugend verkörperte sie dabei die verschiedensten Charaktere: von der Ingenieursgattin über die Zirkusreiterin bis zu Hamlet, vom zwölfjährigen Backfisch (den sie im zarten Alter von 32 Jahren spielte) bis zur alternden Dirne — Asta Nielsen suchte die Extreme, wollte immer neu ihr schauspielerisches Können ausloten. In ihren großen, schwarzen Augen schien sich das Wissen um alles verzehrende Leidenschaften zu offenbaren. Ihre „Anti“-Heldinnen liebten grenzenlos (in der Regel Männer, die diese Gefühle allenfalls lauwarm erwiderten) und schreckten auch vor Mord nicht zurück. Die Sympathien des Publikums konnten solche Verbrechen nicht schmälern. Die Blicke der Nielsen hatten es zu Zeugen einer abgrundtiefen Verzweiflung gemacht, die sich nur in einer spektakulären Tat Luft machen konnte.

„Entfesselung des Unbewußten nach völliger Beherrschung des Bewußten“ nannte sie das einmal — Asta Nielsen überließ nichts dem Zufall. Stets war sie sich ihrer Wirkung auf der Leinwand bewußt, stundenlang erarbeitete sie zum Teil jaulend und gurgelnd vor dem Spiegel die ausdrucksstärksten Gebärden. Sogar ihre Kostüme entwarf sie selbst, mit Blick auf die Bedeutung von Linien und Kontrasten im neuen — schwarzweißen — Medium.

Dieses ließ den Schauspielern große Spielräume. Regisseure blieben eher im Hintergrund, meist wurden sie nicht einmal im Abspann genannt, von den anderen Stabmitgliedern ganz zu schweigen. Die zeitgenössischen Drehbücher würden heute nicht einmal mehr als Exposé durchgehen, oft begnügte man sich mit einem Satz pro Szene: „Astas Kind stirbt — Astas große Szene“. Aller Knappheit zum Trotz bestand die Nielsen darauf, das Manuskript zu lesen, bevor sie eine Rolle annahm. Ein damals ungewöhnliches, geradezu dreistes Ansinnen, genauso wie ihr Kampf für anspruchsvolle Filmplakate. „Ich konnte eine ganze Zeit lang keine größere Straße entlanggehen, ohne daß mir an allen Plakatsäulen mein eigenes Abbild entgegenprangte, dem das blutende Herz aus der Brust hing. Darunter stand zu lesen: ,Asta Nielsen, die Duse des Films‘!“ 1913 setzte sie erstmals einen künstlerischen Plakatentwurf durch, was manchen Kinobesitzer veranlaßte, die Herstellung reißerischer Werbematerialien selbst in die Hand zu nehmen. Nebenbei bemerkt wurden in etlichen Spielstellen auch die Filmkopien um vermeintlich langweilige Passagen gekürzt. Asta Nielsen verwahrte sich energisch gegen solche Praktiken. Sie wollte im Film nicht nur ein gewinnbringendes Spektakel sehen, sondern auch die Möglichkeit, eine neue Kunst zu etablieren. Daß sie beides durchaus geschäftstüchtig zu verbinden wußte, zeigt schon ihr erster Mehrjahresvertrag mit der PAGU (später UFA), laut dem sie statt des üblichen Engagements eine Gewinnbeteiligung von einem Drittel erhielt.

Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sie ihre Karriere fortsetzen, jedoch unter veränderten Vorzeichen. Die europäische Filmwirtschaft war zusammengebrochen, amerikanische Streifen beherrschten den Markt. Neue Schnittechniken schränkten die gestalterischen Freiräume der Schauspieler zugunsten der Regisseure ein. Gewohnt, ihre Szenen lange auszuspielen, fühlte sich die Nielsen durch die neuen Methoden buchstäblich beschnitten. Ihre Filme waren zwar weiterhin außerordentlich erfolgreich, Angebote, die ihren Vorstellungen entsprachen, wurden aber zunehmend rarer. Ende der zwanziger Jahre wandte sie sich konsequenterweise wieder mehr dem Theater zu. Unter den Nationalsozialisten lehnte sie Goebbels' Angebot, ihr eine Produktionsfirma zu finanzieren, ab und kehrte zurück in ihre dänische Heimat.

Dort hatte sie 1910 Abgründe, ihren ersten Film, gedreht, der sie mit einem Schlag weltberühmt machte. Ein Lasso um die Hüften geknotet, tanzte sie darin die Leidenschaft einer Klavierspielerin für einen Artisten, provozierend sinnlich, mit stolz erhobenem Haupt. Die fesselnde Ausdruckskraft ihres unzeitgemäß schlanken Körpers beschäftigte fortan ebenso wie ihre Augen eine ganze Generation von Kritikern. Béla Balázs glaubte das „Gefährlich- Dämonische“ in ihrer „spiritualisierten Erotik“ ausmachen zu können, Guillaume Apollinaire sah schlicht die „Vision des Trinkers“ in ihr.

Ihr Privatleben schirmte die Diva beharrlich von der Außenwelt ab. Erst als sie 87jährig mit dem Kunsthändler Christian Thede eine große Liebe erlebte, machte sie dieses Ereignis öffentlich, wollte Zeichen setzen gegen die Vereinsamung im Alter. Drei Jahre später, am 25. Mai 1972, erlag Asta Nielsen den Folgen eines Unfalls. Barbara Wildenotter

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