England vor Entscheidung in Wembley: Im Stillstand voran
Das englische Team will sich am Mittwoch gegen Kroatien für die EM qualifizieren. Die Auswahl von Trainer McClaren hat alles zu bieten - nur keine Spielintelligenz.
LONDON taz Ganz England schrie am Samstag begeistert auf, als Israel in letzter Minute den Siegtreffer gegen Russland erzielte, der eigentliche Nutznießer aber hatte den Glücksmoment verpasst. "Ich konnte die letzten zehn Minuten nicht mehr hinschauen und hatte mich ins Badezimmer verzogen", gab Steve McClaren zu, "ich kann nicht glauben, dass es die Nation 95 Minuten lang ausgehalten hat." Am Mittwoch wird der Nationaltrainer allerdings bis zum Schlusspfiff durchhalten müssen. Ganz so nervenzerreißend sollte es im ausverkauften Wembley-Stadion ja auch nicht zugehen.
Gegen die schon qualifizierten und mutmaßlich mäßig motivierten Kroaten reicht ein Unentschieden. Aber da ein Scheitern unter diesen günstigen Voraussetzungen natürlich erst recht traumatisch ausfallen würde, hat McClaren weise warnend an ein denkwürdiges Match vor sechs Jahren erinnert. In der letzten Partie der WM-Qualifikation brauchte England 2001 gegen Griechenland auch nur einen Punkt, lag jedoch kurz vor Schluss 1:2 zurück. David Beckhams Freistoßtor in der Nachspielzeit rettete den Gruppensieg, Rudi Völlers zweitplatzierte Deutsche mussten in die Relegation. "Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt", sagte McClaren, "aber die Kroaten könnten uns ähnlich gefährlich werden."
Die Nationalelf soll auf Sieg spielen und in den Qualifikationswirren verloren gegangene Sympathien zurückgewinnen, zugleich müsse man aber "das Undenkbare fürchten", wie es der Guardian formulierte. Ob das ein guter Ratschlag ist? Es war ja in erster Linie die nackte Angst vor der eigenen Blamage, die England beim 0:2 in Zagreb und dem 1:2 in Moskau zum Verhängnis wurde. In beiden Partien hatten die Briten das Geschehen lange kontrolliert, um binnen weniger Minuten völlig zusammenzubrechen. Besser also, man denkt überhaupt nicht an das Undenkbare, dieses Paradoxon würde das Gros der Kicker sowieso überfordern. "Die Mannschaft ist reich an allem - außer an Intellekt", hat die Financial Times bereits vor der WM festgestellt.
Dieses Defizit mag man ihnen verzeihen. Weitaus problematischer ist dagegen die Tatsache, dass das Team seit dem Aus im WM-Viertelfinale gegen Portugal keine Grashalmbreite weit nach vorne gekommen ist; weder personell noch taktisch. Große Visionen hat man McClaren noch nie nachgesagt, aber am Anfang seiner Amtszeit vor 18 Monaten hatte er zumindest noch vieles richtig gemacht. Beckham, der mit seinen telegenen Pässen das Spiel lang und zäh machte, wurde rigoros aussortiert, der lange verkannte Owen Hargreaves zum Stammspieler befördert. Nach den ersten Rückschlägen verließ den risikoscheuen Trainer jedoch wieder der Mut. Seit August 2006 setzte er insgesamt 35 Spieler ein, um am Mittwoch wieder bei dem Fünfer-Mittelfeld (Beckham, Gerrard, Hargreaves, Lampard, Joe Cole) zu landen. "Eine Definition von Wahnsinn ist: in der Hoffnung, dass sich etwas ändert, immer wieder das Gleiche zu tun", fiel der Times zum Ende der zaghaften Reformversuche ein.
Verletzungen im Sturm - Wayne Rooney und Michael Owen fallen aus - schränken McClarens Möglichkeiten ein, doch das Festhalten an dem mittlerweile nahezu unbeweglichen Beckham, 32, ist bezeichnend für den Mangel an neuen Ideen. Der vom interkontinentalen Pendlertum zermürbte "Becks" geht auf die 100 zu, was die Anzahl der Länderspiele angeht, und beim 98. Match für England, dem 1:0-Sieg in Wien am Freitagabend, spielte er bereits auffällig langsam. McClaren vertraut trotzdem auf seine Freistöße und Flanken; Goran Vucevic, Kroatiens Taktikscout, glaubt ebenfalls, dass Beckham gefährlich ist. "Er kann den Ball auf die Augenbrauen von Peter Crouch zirkeln", warnte Vucevic, stellte jedoch zugleich nüchtern fest, dass England außer diesem rudimentären Spielzug wenig zu bieten habe: "Sie haben seit dem Spiel in Zagreb keine großen Fortschritte gemacht." Nun, das stimmt nicht ganz. McClaren hat sich nach desaströsen Trainingsleistungen von Paul Robinson zu einem Torwartwechsel durchgerungen. Scott Carson von Aston Villa soll nun den Kasten hüten - und dafür sorgen, dass sein Coach nicht schon wieder vor Nervosität aufs stille Örtchen flüchten muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP