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Press-SchlagEngland im Griff der Glückshormone

■ Das wahre Labour-Zugpferd hieß Andreas Möller, sagt ein Psychologe

Was Engländer im Kopf haben, hat bisher noch keiner so recht erklären können, jetzt aber hat es einer getan; ein Engländer selbst. Chemie, schreibt der Psychologe Oliver James, gehe in den Köpfen seiner Landsleute vor. Viele kleine Moleküle der Chemikalie Serotonin sausen durch das englische Nervensystem. Je mehr Serotonin im Hirn, desto glücklicher der Engländer, erklärt der Autor des Buches „Britannien auf der Couch: Eine Behandlung für die Niedrig-Serotonin- Gesellschaft“.

Nach drei Siegen ihrer Fußball-Nationalelf binnen einer Woche (in der WM-Qualifikation gegen Polen sowie gegen Italien und die Gastgeber bei der Mini-WM in Frankreich) und dem Cricket-Triumph über Erzrivale Australien in einem Wettbewerb, der zu deutsch „Die Asche“ heißt und von dem die Engländer tatsächlich glauben, die ganze Welt würde darauf schauen, gibt sich England enthemmt. Daran konnte auch die 0:1-Niederlage der Fußballer gegen Brasilien am Dienstag nichts mehr ändern.

„Als Alan Shearers Schuß ins polnische Fußballtor krachte, verwandelte sich die chemikalische Hirnzusammensetzung der fünf Millionen englischen Zuschauer“, so James. Das Serotonin-Niveau stieg, die Nation wurde happy. „Damit nicht genug“, fährt James fort, als die Cricketspieler am Wochenende „Australien erniedrigten, löste das ähnliche Gefühle wie die Droge Ecstasy aus“.

Das Boulevardblatt The Mirror titelte nach dem Cricketsieg: „Fühlt ihr euch nicht einfach groß, britisch zu sein?“ Selbst ein Blatt von seriösem Ruf wie The Observer überschreibt seine erste Seite mit der Zeile „Plötzlich sind wir eine Nation von Gewinnern“.

Falls es noch eines Beweises bedurfte, daß sich in diesen Tagen die physikalischen Kräfte auch im hintersten englischen Kleinhirn verändert haben, so lieferte ihn Tony Banks, der Sportminister der neuen Labour-Regierung. Die Siege der zuvor vielgescholtenen Fußballelf analysierte Banks trocken: „Der Regierungswechsel hat die Moral verändert.“ Auch der größte Bruchpilot Britanniens, Skispringer Eddie the Eagle, „würde unter einer Labour-Regierung aufrecht landen“, erklärte Banks, um sich dann ganz seiner Serotonin-Ausschüttung hinzugeben: „Was für ein großer Tag, Sportminister zu sein.“

Dabei verdankt die gesamte neue politische Führung inklusive Banks ihren Aufstieg laut Psychologe Oliver James einem Sportler – Andreas Möller. Der Dortmunder verwandelte vor einem Jahr den entscheidenden Elfmeter im Europameisterschafts-Halbfinale. Deutschland war im Endspiel, England ausgeschieden. Wäre England ins Finale gekommen, so James, hätte sich schon damals ein „Feel-Good-Factor“ eingestellt, und in „diesem Fluß von Serotonin“ hätte der damalige Premierminister John Major zur Wiederwahl schwimmen können. „So aber“, schließt James, „ist die Vermutung legitim, Möllers Elfmeter sei der letzte Sargnargel für Majors Wahlkampf gewesen.“ Ronald Reng

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