: Endlich wieder in Sarajevo
Bosnien und Herzegowina, elf Jahre nach Dayton: ein Rundgang durch Sarajevo
VON ERICH RATHFELDER
Der Wille zur Versöhnung und zu einem friedlichen Zusammenleben verschiedener Völker, Kulturen und Religionen verbindet sich in Bosnien und Herzegowina politisch mit den Bestrebungen, sich immer stärker an Europa und seinen Rechts- und Wertevorstellungen zu orientieren, mag es auch hier und da Rückfälle in alte, kollektivistische oder nationalistische Ideologien geben.
Christian Schwarz-Schilling,
Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina
Der deutsche Sitznachbar im Flugzeug rutscht nervös auf seinem Sitz hin und her. Es ist noch immer nicht jedermanns Sache, nach Bosnien zu reisen. Während in Kroatien der Tourismus boomt, wagen sich bisher nur wenige Besucher ins Nachbarland. Als Angestellte einer Firma oder einer internationalen Organisation müssen manche es dennoch tun.
„Bitte bleiben sie angeschnallt, wir nähern uns dem Flughafen Sarajevo“, erklingt die Stimme der Stewardess. Der Sitznachbar schaut aus dem Fenster. Das Flugzeug beginnt den Sinkflug. Die schneebedeckten Berge um Sarajevo sind die Kulisse für das lang gezogene Tal der Miljacka. Die Stadt presst sich in das Tal, greift aus auf die umliegenden Hänge und endet bei dem Flughafen, nahe der Quelle des Flusses Bosna. Schon sind die Häuser der Vorstadt Ilidza zu erkennen und dann die Hochhaussiedlungen des Vororts Dobrinja.
Endlich bin ich wieder in Sarajevo. Die klare Luft einzusaugen, den Blick über die Berge gleiten zu lassen und den Jargon der Taxifahrer zu hören, das weckt vertraute Gefühle. Gegenüber dem Parkplatz stehen einige schmucke Häuserzeilen. Noch vor kurzem starrten ausgebrannte Fensterhöhlen und von Maschinengewehrsalven durchlöcherte Wände die Besucher an.
Heute spielen Kinder auf den Straßen, die Vorgärten sind voll von Blumen. Gleich um die Ecke liegt der Einstiegspunkt für den berühmten Tunnel unter dem Flughafen, der Dobrinja und Sarajevo mit dem von der bosnischen Armee kontrollierten Butmir verband. Die UN hielt den Flughafen allerdings besetzt, und die Einwohner Sarajevos konnten nur mit UN-Erlaubnis die Stadt verlassen. So mussten die Verteidiger sich durch den 1,60 Meter hohen Tunnel quetschen, um unabhängig von der UNO Lebensmittel und Waffen durchschleusen zu können.
Jetzt ist hier eine kleine Gedenkstätte, von der aus man einen Blick in den Tunnel werfen kann. Das Taxi gleitet die zwölf Kilometer lange Straße ins Zentrum entlang, vorbei an dem Fernsehsender, von dem noch vor zehn Jahren auch die ausländischen Anstalten sendeten, entlang der einstmals berühmten „Sniper Alley“, der Allee der Scharfschützen, nahe dem damals von Serben gehaltenen Viertel Grbavica, hin zur Altstadt.
Der Verkehr verdichtet sich, und kurz vor dem in frisches Gelb getauchten Würfel des Hotels Holiday Inn kommt das Taxi zum Stehen. Verkehrsstaus in Sarajevo seien nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel, stöhnt der Fahrer. „Alle klagen, kein Geld zu haben, doch so viele können sich ein Auto leisten“, lacht er. Wie die Leute das machten, sei auch ihm ein Rätsel.
Noch immer drängen die meisten jungen Menschen aus Bosnien hinaus in die Welt. Die Schulsysteme funktionieren, die Universitäten von Sarajevo, Tuzla, Mostar oder Banja Luka produzieren ständig hochmotivierte Absolventen, die angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage nur geringe Aussichten haben, einen Job in der Heimat zu finden. Dass nur Mullahs, Popen und Kriegsverbrecher bleiben, ist eine der typischen selbstironischen Bemerkungen.
Elf Jahre nach dem Krieg ist in Sarajevo eine neue Generation herangewachsen, die das Kriegstrauma nicht mehr an sich heranlassen will. Sarajevo ist eine junge Stadt, die Teil der modernen Welt sein will. Im Institut für Politische Wissenschaften geben die Studenten gern Auskunft über diese Wünsche. Der tägliche Überlebenskampf und die schlechte soziale Lage beflügeln die Jugend, aus ihren geringen Möglichkeiten das Beste herauszuholen. Knapp die Hälfte will nach den Examina ins Ausland.
Zu uns an unseren Tisch im Café gesellt sich Nermina, eine Psychologin. Heute noch genüge ein Blick in die Tageszeitungen, um zu sehen, wie viele immer noch stürben, sagt die 33-Jährige, deren Traum, als Model zu arbeiten, während des Krieges zerstoben ist. Seien schon damals nicht all jene alten Leute als „Kriegstote“ gezählt worden, die erfroren, verhungert oder mangels Medikamenten starben, so müsse auch heute neu gezählt werden. „Viele jener Männer, die unter großen Entbehrungen die Stadt verteidigten, holt das erlebte Trauma ein.“ Alkoholismus sei keine Seltenheit. 1.430 ehemalige Soldaten hätten seit Kriegsende Selbstmord begangen. „Andere sterben unauffällig, einfach so, im besten Alter.“ Man könne nur ahnen, was in vielen Menschen vorgegangen sei.
Im Zentrum der Stadt drängen sich inzwischen die Menschen. Sogar einige Touristen sind in den Gassen der Basarsija, der historischen Altstadt, zu sehen, die in den Läden Mokkatassen oder Lederwaren erstehen und mit den Gold- und Silberschmieden über den Preis der Schmuckstücke verhandeln. Die ausländischen Besucher studieren den Stadtplan, blicken auf das Ensemble der Kirchen und Moscheen, auf die renovierten Häuserzeilen, ohne sich bewusst zu sein, dass hier noch vor elf Jahren Granaten einschlugen.
Die Touristen symbolisieren die Rückkehr zur Normalität nach Jahren der Isolation. Auch dem Reporter macht es Spaß, mit einigen Freunden in der ersten Reihe der Cafés in der Ferhadijastraße sitzend, dem Treiben zuzuschauen, wenn die zahllosen modisch-elegant herausgeputzten Schönheiten der Stadt beim alltäglichen Spaziergang die Cafés passieren.
Im Vergleich zu Berlin-Moabit oder Kreuzberg, wo das Straßenbild von den Kopftüchern muslimischer Immigrantinnen geprägt ist, überrascht es, wie selten hier, in der mehrheitlich muslimischen Stadt Sarajevo, die Zeichen der islamischen Religiosität und Identität zu sehen sind. Wenn mittags die Mädchen aus der Medresa, der Religionsschule, kommen, sind sie mit ihrer „Marama“, dem Kopftuch, angetan. Doch das sind Ausnahmen.
Viele Bekannte schlendern an unserem Tisch im Café vorbei, bleiben stehen oder setzen sich, es gibt ja immer Neuigkeiten auszutauschen. Der 71-jährige Mehmed Aliehaji ist aus der Ferhadijastraße nicht wegzudenken. Der sportlich-drahtige, weißhaarige Pensionär, der immer noch sehr oft die Berge der Umgebung besteigt und fast jeden Jüngeren abzuhängen pflegt, erklärt sich gleich bereit, mit uns einen kleinen Rundgang durch die Stadt zu machen. Weit brauchen wir nicht zu gehen, denn viele Sehenswürdigkeiten befinden sich in einem Radius von nur zweihundert Metern. Mehmed kennt jeden Stein, zu jedem Haus kann er eine Anekdote zum Besten geben. Er deutet auf eine Häuserzeile in der ehemaligen Herzog-Rudolf-Straße, die jüdisches Eigentum war, bevor ihre Besitzer 1942/43 von den Nazis verhaftet und in Konzentrationslager gebracht wurden.
Die jüdische Geschichte ist im Zentrum Sarajevos gegenwärtig. Kaum einen Steinwurf entfernt steht der 1581 erbaute Alte Tempel der sephardischen Juden, der, von den Nazis während der deutschen Besatzung zerstört, wieder aufgebaut wurde und heute ein Museum ist. Von der Größe der vor der Nazi-Besatzung bestehenden jüdischen Gemeinde zeugen noch die Aschkenasi-Synagoge und der damals ebenfalls zerstörte Neue Tempel, in dem heute das Bosnische Kulturzentrum untergebracht ist.
Ein Blickfang ist die 1530 erbaute Gazi-Husrev-Beg-Moschee, die mit der mächtigen Kuppel und dem 45 Meter hohen Minarett zu den bedeutendsten islamischen Bauten in Bosnien und Herzegowina gehört. Die Muslime Bosniens zogen mit den türkischen Heeren nach Wien, und viele starben dort bei der Belagerung der österreichischen Hauptstadt. Als Reaktion darauf eroberten die österreichischen Truppen unter Prinz Eugen von Savoyen 1697 Sarajevo, verwüsteten große Teile Bosniens und brannten die Gazi-Husrev-Beg-Moschee nieder. Im letzten Krieg trafen einige Granaten das Gebäude. Doch jetzt ist es renoviert.
Neben diesem sichtbaren Zentrum des Islams, den unzähligen Moscheen und dem Sitz des Reisu-l-Ulema, des Oberhaupts der Muslime, erstehen mit Mehmeds Erzählungen die Bilder aus dem vergangenen Sarajevo. Er deutet auf einen Stein oder ein Rinnsal und lässt vor dem geistigen Auge das Bild von Gasthäusern, von türkischen Bädern oder von den Palästen der Reichen und Mächtigen wiedererstehen.
Die Geschichte ist präsent in Sarajevo. Auch die der Habsburger. Wie ein Ring legen sich ihre architektonischen Hinterlassenschaften um die Altstadt: Das ehemalige Rathaus und die spätere Bibliothek, das Diplomatenviertel oberhalb der Altstadt, die Häuserzeilen, die die Miljacka umsäumen, atmen den unverkennbaren Stil der kaiserlich-königlichen Epoche. Die Österreicher bauten Schulen und Krankenhäuser, den Bahnhof und das Museum. Der Reiz des Zentrums besteht in der Symbiose von türkisch-osmanischem Stil und der Habsburgerzeit. Österreich hat in den letzten Jahren bedeutende Mittel aufgewandt, um einige zerstörte Relikte seiner Herrschaft wieder aufzubauen.
Die Raja, die alteingesessene Bevölkerung, ist stolz auf ihre Stadt – und auf sich selbst. Wer dazugehört und wer nicht, ist nicht immer einfach zu bestimmen. Die Raja waren ursprünglich das von den Herren abgegrenzte Stadtvolk, das Wege entwickelte, seine eigene Meinung zu bilden und auszudrücken. Heute bezeichnet es Bürger, die bestimmte Werte vertreten. Dabei geht es um Lebensgefühl, Bildungsstatus und Herkunft. Hier mischen sich Intellektualität und Traditionsbewusstsein mit aufgeklärten Werten und mitunter ein bisschen Hochmut.
Der Rundgang endet wie so häufig bei einem Getränk im Café. „Wie könnte ich in einer Gesellschaft mit nur einer Religion leben, wie langweilig wäre das“, sagt die Kunststudentin Amela, „stell dir vor, alle gehen am Sonntagmorgen gleichzeitig zur Kirche oder in die Moschee. Alle Bewohner hätten die gleichen Gewohnheiten und Sitten. Das ist, den Göttern sei Dank, hier anders.“
ERICH RATHFELDER, Jahrgang 1947, war von 1983 bis 1991 Auslandsredakteur der taz, seitdem ist er Korrespondent für die Balkanstaaten. Der Text besteht aus Auszügen seines Buchs „Schnittpunkt Sarajevo“ (Verlag Hans Schiler, Berlin, 256 Seiten, 18 Euro, Juni 2006).