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Ende der Nachahmung

Die neue Ökonomie als Hightech-Ghetto: In der siebenteiligen Theatersoap „world wide web-slums“ am Hamburger Schauspielhaus schickt René Pollesch seine Akteure in einen Albtraum aus Telefondienstleistung und virtuellem Leben

Bei Pollesch wird aus der Techno-Sprache und den hysterischen Telefonstimmen eine Art Kommunikations-Sciencefiction

Gong Titelbaum hüpft in einem Schlafsack herum, der sich als denkender Körpercomputer entpuppt. Ostern Weihnachten mutiert als Online-Leiche zu einem goldenen Surfbrett. Nein, wir befinden uns in keiner Sciencefiction-Oper, sondern im Stadttheater. Titelbaum und Ostern Weihnachten sind Figuren aus der Internet-Soap „world wide web-slums“, die derzeit in sieben Folgen am Hamburger Schauspielhaus zu sehen ist. Die Textmassen über Web-Gesetze und Turbokapitalismus sind so enorm, dass sie nur in einer Serie untergebracht werden können.

Geschrieben und inszeniert hat diesen groovenden Start-up-Kongress voller Computer René Pollesch. Wenn in seinem Stück eine Figur Telekinese beherrscht, ist sie auch für die Umbauten verantwortlich. Von Szene zu Szene bewegen sich Stühle durch den Raum, und Lampen fahren auf und ab. So elegant und einfach erledigt Pollesch visuelle Tricks, der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt jedoch im Text.

Es ist Ende der 80er-Jahre. Im Fernsehen läuft gerade der sprechende Alien-Teddy Alf durchs Wohnzimmer. Al Bundys schrecklich nette Familie ist noch nicht angelaufen, und deutsche Dailys sind noch fern. Schon zu dieser Zeit inszeniert und schreibt Pollesch am Gießener Institut für Theaterwissenschaft das Kettensägenstück „Spatterboulevard“ und schickt seine Familienserie „Daheimbs“ wöchentlich ins Rennen. Haufenweise fließen Mythen des Alltags in seine Geschichten ein, die er verschwenderisch in einzelnen Sätzen unterbringt. Dabei verzichtet Pollesch auf lineare Plots und Psychologie, arbeitet stattdessen mit filmischer Wahrnehmung, mit Schnitten, die sich durch Textmontage ergeben. Markenzeichen seiner Inszenierungen werden schnell abwechselnde Dialoge, rasend und monoton im Vortrag, gleichzeitig aber überladen mit Beschreibungen und Witz.

Das akrobatische Sprechen und die schnellen Anschlüsse erzeugen Dichte: „Manchmal ist ein ganzer Satz die Pointe, und wenn du in der Mitte eine Pause machst, aus lauter Gewohnheit oder um den Satz in mundgerechte Teile zu zerlegen, dann wissen die Zuschauer schon, wie der Satz weitergeht“, erklärt Wortbeschleuniger Pollesch. „Das ist dann wie Wellen, die sich neutralisieren, keiner lacht.“

Mit „world wide web-slums“ untersucht Pollesch nun die prekären Geschlechter- und Arbeitsverhältnisse in der Computerbranche und bearbeitet das Paradox der Anwesenheit: Telearbeit ist einsam. Was geschieht, wenn Bildschirmangestellte live aufeinander treffen? Es kommt zur Gesprächsexplosion, alle aufgestauten und zurückgehaltenen Emotionen zerfetzen gleichzeitig die Gegenwart.

Das Internet hat eine soziale Dimension bekommen. Die Waren der postfordistischen Ökonomie bestehen zu immer größeren Anteilen aus Information und Sprache und damit aus Individualität. Arbeit heute ist intellektuelle und emotionale Tätigkeit. Am deutlichsten wird diese Umwandlung in neuen Serviceberufen wie Telemarketing – das ist der Bereich, in dem auch Polleschs „www-slums“ entstehen. Die abhängige Arbeit nimmt dabei selbst unternehmerische Qualitäten an. Die Fähigkeit, soziale Beziehungen zu organisieren, geht in die Ausweitung betrieblicher Kooperation ein.

Wenn es diesen Bereich moderner Dienstleistung nicht gäbe, jemand hätte ihn für das Theater erfinden müssen, so ergiebig und traurig sind die Geschichten von Servicementalität und Kommunikationszwang. Bei Pollesch wird aus Techno-Sprache und hysterischen Telefonstimmen eine Art Sciencefiction: Während eine kaum nachvollziehbare Technologie das Ruder in die Hand nimmt, verwahrlosen die Akteure zunehmend und finden den letzten Halt in den dekorativen Interieurs ihrer Elterngeneration – Jukeboxen reiten, Popcornmaschinen explodieren.

Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl von Technologie-Ghetto, dass scheinbar nur mit einer Kraft zu verlassen ist: mit Liebe. Im Laufe der Serie versuchen die vier Telearbeiter von ihrem virtuellen Arbeitsplatz ins fassbare Leben zurückzukehren. Doch das Leben will sie nicht, auch wenn Frank Olyphant seinen milliardenschweren Computer hergibt. Am Ende der fünften Folge müssen sie sich selbst Schmerzen zufügen, um überhaupt etwas spüren zu können.

Danach mutiert ein Schäferhundtelefon zur Zapfsäule, mit der Vasen wie Molotowcocktails betankt werden, bevor sich die Akteure selbst Benzin einschütten, um als tödliche Brandbeschleuniger in den Ecken der Bühne zu explodieren. Hier zeigt sich erneut ein Unterschied zwischen öder „Regie bis zur Rente“ und der Gießener Schule: Während am Stadttheater sonst Schauspieler dazu angehalten sind, Rollen zu spielen, werden in den Performance-orientierten Stücken bei Pollesch die Darsteller selbst zu den Figuren oder Objekten. Es gibt keine Nachahmung mehr, nur noch Existenzen. NIKOLA DURIC

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