"Empire"-Autor über Globalisierung: "Nicht alle linken Perspektiven sind gut"
Globalisierungskritiker Michael Hardt über Aufstände gegen Diktaturen, Bewegungen gegen den Finanzkapitalismus und Optimismus in einem Zyklus der Kämpfe.
sonntaz: Herr Hardt, die Europäische Union steht nun nicht mehr bloß vor einer Währungs- und Finanzkrise, sondern auch vor einer politischen Krise. Wie sehen Sie das, was gerade in der EU passiert, von den USA aus?
Michael Hardt: Die Regierungen tun so, als säßen wir alle auf der "Titanic" und als hätten wir keine andere Chance, als das technokratische Diktat zu befolgen.
Technokratie bedeutet, dass auch die repräsentative Demokratie in die Krise geraten ist?
Ja. Aus der Perspektive der Bewegungen hingegen scheint das eine exzellente Zeit für Aktivismus.
Viele Menschen sehen die Politik unter dem Diktat des Finanzkapitals. Die Finanzwirtschaft wird oft als das schlechthin Böse imaginiert.
Es ist schon beinahe zu einem Klischee geworden, die fiktive Ökonomie in Verteidigung einer realen Ökonomie zu kritisieren. Diese Trennung verkennt, dass gegenwärtig die sogenannte Realökonomie bereits in großen Teilen aus immaterieller Produktion besteht. Es ist falsch zu glauben, wir könnten eine Realökonomie von einer fiktiven Ökonomie trennen und zu einem Typus der Realökonomie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückkehren. So funktioniert Kapitalismus nicht. Diese Unterscheidung ist illusorisch und mystifizierend.
geboren 1960 in Washington D. C., ist Professor für Literaturwissenschaft an der Duke University Durham, USA. Gemeinsam mit dem in Venedig und Paris lebenden Philosophen Antonio Negri schrieb er die Theoriebestseller "Empire" (deutsch 2002), "Multitude" (deutsch 2004) und "Commonwealth" (deutsch 2010). "Empire" ist zu einer Art Gründungstext der globalisierungskritischen Bewegung geworden.
Hardt und Negri widersprechen der Vorstellung, die derzeitige Politik- und Wirtschaftsform sei die einzig mögliche, und gestalten die Idee von einer globalen Gesellschaft, die an der Idee des Gemeinsamen ("common") und des Teilens von Ressourcen ausgerichtet ist. Die Hebel zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft entspringen den neuen Formen kapitalistischer Produktion und der mit ihr verbundenen Subjektivierungsformen selbst.
Inwiefern?
Sie unterstellt eine quasikriminelle Deformierung des Kapitalismus durch das Finanzkapital. Aber der Zustand, zu dem man zurückkehren will, den gibt es nicht mehr.
Dieses Interview und viele andere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 17./18.12.2011. Am Kiosk, eKiosk oder gleich per . Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Einige linke Intellektuelle, etwa Slavoj Zizek, sprechen von einem Ende der Ehe zwischen Kapitalismus und Demokratie.
Eine Sache, die mich an dem Zyklus der Kämpfe von 2011, sei es in Tunesien, Ägypten, Spanien, Griechenland oder den USA, am meisten interessiert, ist die Kritik an den gegenwärtigen Regierungen und das daraus resultierende Verlangen nach wirklicher Demokratie. Als der Slogan "Wahre Demokratie jetzt!" in der Bewegung des 15. Mai in Spanien erklang, schien das vielen zunächst sehr naiv. Ich glaube, diese Naivität wurde gefördert durch den Ruf nach Demokratie in Tunesien und Ägypten. Aber jetzt, im Laufe des Jahres, stellt sich heraus, dass die Rehabilitierung des Demokratiekonzepts und das Verlangen nach einer wirklichen Bewegung etwas Neues an dem gegenwärtigen Zyklus der Kämpfe ist.
Sie sprechen von einem Zyklus der Kämpfe, das heißt, Sie vergleichen Ägypten mit New York - eine antidiktatorische Revolte mit einem metropolitanen Protest?
Natürlich sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite jedoch ist nicht zu leugnen, dass die Demonstranten in Spanien und Griechenland sich immer wieder direkt auf das, was sich auf dem Tahrirplatz ereignet hatte, bezogen haben. Von der Puerta del Sol schaute man auf den Tahrirplatz, und bei Occupy Wall Street schaute man auf die Puerta del Sol. Ich denke, dass trotz der sehr unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen in den jeweiligen Gesellschaften es einen echten Einschnitt entlang dieser Kämpfe gibt.
Was ist das Neue an ihnen, was unterscheidet sie beispielsweise von der bisherigen Antiglobalisierungsbewegung?
Die Anti- oder alternative Globalisierungsbewegung war nomadisch. Sie zog von Ort zu Ort, zeigte sich in Seattle, Genua, Göteborg etc. Jetzt sehen wir etwas völlig anderes. Die Occupy-Bewegung campiert, sie will sichtbar sein und fordert die Plätze zurück.
Viele linke Kritiker sagen, die Leute bei Occupy demonstrierten für einen saubereren und humanistischen Kapitalismus, aber nicht gegen ihn.
Ich glaube nicht, dass diese Kämpfe in der Art verallgemeinerbar sind.
Aber was hält sie dann im Innersten zusammen?
Was sie verbindet, ist die Kritik an sozialer Ungleichheit und an der Schuldengesellschaft. Das Wichtigste jedoch ist ihre Kritik an Repräsentation. Repräsentation verbindet und trennt gleichermaßen von der Herrschaft. Sie schafft die Illusion einer Verbindung. Dagegen steht die Forderung nach echter Demokratie. Die Kritik an der Repräsentation wurde in der spanischen Bewegung des 15. Mai am deutlichsten, sie wurde von Occupy Wall Street teilweise übernommen.
In nahezu allen europäischen Ländern gibt es starke rechte Bewegungen. Immer größere Teile der Mittelschicht rutschen in Richtung Proletariat, und in den Metropolen erleben wir eine Gentrifizierung auf der einen und eine zunehmende Prekarisierung auf der anderen Seite. Ein Leichtes, dem apokalyptischen Denken anheimzufallen. Woraus beziehen Sie den Optimismus gegenüber der Entwicklung der Kämpfe?
Es stimmt sicher, dass sich in Europa mehr und mehr, beinahe so wie in den USA, eine Aufteilung und Zementierung in Arm und Reich vollzieht. Die soziale Ungleichheit wächst extrem. Optimistisch oder pessimistisch bin ich jedoch immer nur bezogen auf den Stand der Kämpfe. Und dieses Jahr war in dieser Hinsicht ein sehr inspirierendes Jahr. Es fällt mir schwer, pessimistisch zu sein, wenn neue und wichtige Dinge passieren. Es kommt auf den Standpunkt an.
Aufseiten der Rechten setzt man zunehmend auf antikapitalistische Parolen gegen das internationalistische Kapital. Der gegenwärtige Kapitalismus hingegen kann sich Rassismus kaum noch leisten, Mobilität und Offenheit gehören zu den propagierten Eigenschaften. Auch viele Linke träumen noch den Traum von einem nationalen Refugium.
Der Feind unseres Feindes ist nicht zwangsläufig unser Freund. Ich erinnere mich an die Aussage eines Journalisten nach 9/11, der sagte: "Du bist gegen die Wall Street, al-Qaida ist gegen die Wall Street, also bist du ein Freund von al-Qaida." Nein, natürlich nicht. Es sollte uns zum Nachdenken bringen, aber dass zwei einander opponente Standpunkte das Gleiche kritisieren, schließt sich nun mal nicht natürlicherweise aus. Aber es gibt so etwas wie einen linken Konservatismus.
Wie funktioniert er?
Nicht alle linken Perspektiven sind gut und progressiv. Aber das bedeutet nur, dass wir umso mehr Kämpfe kämpfen müssen. Eine progressive oder gar kommunistische Agenda muss nicht alles zurückweisen, was der Kapitalismus produziert. Es gibt zwei Arten, Antikapitalist zu sein. Die eine ist die des Boxers, sie besteht darin, alles abzulehnen. Die andere Art besteht darin, sich nicht gänzlich außerhalb zu imaginieren. Marx selbst dachte, dass vieles, was die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt, dazu benutzt werden kann, neue und bessere Gesellschaften zu etablieren. Darauf bezieht sich auch die oft zitierte Passage aus dem Kommunistischen Manifest, dass die Bourgeoisie ihre eigenen Totengräber schaffe. Aber es ist mehr, auch bei Marx, der Kapitalismus schafft nicht nur seine eigenen Totengräber, er schafft auch die Basis für eine neue, demokratischere Gesellschaft.
Hat der Kapitalismus in diesem Sinne ein utopisches Potenzial?
So würde ich das nicht nennen.
Das klingt zu stark?
Der Kapitalismus beruht auf Ungleichheit und Ausbeutung. Aber vielleicht gibt es eine Utopie, die aus der kapitalistischen Gesellschaft kommen kann. So würde ich das sagen.
Jürgen Habermas sogenannte realistische Utopie besteht in der Konstituierung eines Weltparlaments.
Mir geht es eher darum, einen Konstituierungsprozess wirklicher Demokratie einzuleiten, die über die republikanische Figur der Repräsentation hinausgeht. Die Frage ist, wie diese Miniaturexperimente, das Ausprobieren von Demokratie auf den Plätzen in Madrid und anderswo, in die Gesellschaft zu übertragen wären.
Wie kann ein solcher Konstituierungsprozess auf den Weg gebracht werden?
Die Krise manifestiert sich auch als gesellschaftliche in den Subjekten. Wir müssen den Formen, in denen wir als Verschuldete, Mediatisierte oder Repräsentierte subjektiviert sind, wirkliche Beziehungen entgegensetzen, wirkliche Kommunikation und kollektive Intelligenz statt mediatisierter Kommunikation ermöglichen und aus der Gemeinsamkeit eine Sicherheit gegen die Mechanismen des Sicherheitsregimes gewinnen.
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