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Empfindliche Seelen

■ Das Banale in all seinem Ernst: Emmanuel Boves Roman „Dinah“

Eine Liebesgeschichte: Jean Michelez, Architekt, fährt mit der Eisenbahn von Paris nach Nancy, um dort um die Hand seiner zukünftigen Frau Antoinette anzuhalten. Dabei, so erinnert er sich später, hatte er „nicht das geringste Gefühl“ verspürt: „,Sie wird einwilligen. Wenn sie nicht einwilligt, ist das nicht schlimm‘, hatte er im Zug gedacht. Gerade weil er sie nicht begehrt hatte, hatte sie eingewilligt.“ In dem kurzen Roman „Dinah“ von Emmanuel Bove ist das eine Grundsituation: Verläßliche Wirklichkeit ergibt sich nur in den Regionen, die man von Gefühlen freihalten kann. Die Ehe, die hier geschlossen werden soll, scheint nur möglich zu sein, weil sie den Verletzungen durch Liebesansprüche oder Sehnsüchte erst gar nicht ausgesetzt wird. Aber es ist anstrengend, auf das Glück nicht angewiesen sein zu wollen, es bedarf der bestärkenden Gesten und demonstrativen Distanzierungen: Antoinette, so heißt es etwas später, klagt ständig über ihre Ehe, „nicht, weil sie so viele Gründe dafür gehabt hätte, sondern weil sie fürchtete, man könne denken, sie genieße es, verheiratet zu sein.“

Der Roman „Dinah“, in dem diese eigentümliche Beziehung nur beiläufig, aber doch scharf konturiert beschrieben wird, erschien zum ersten Mal 1928 in Paris und geriet dann, wie das gesamte Werk des französischen Schriftstellers Emmanuel Bove (1898–1945) in Vergessenheit. Erst seit anderthalb Jahrzehnten werden seine Bücher wieder verlegt und auch in Deutschland gelesen – dank Peter Handke, der die ersten Romane Boves Anfang der achtziger Jahre übersetzte. „Dinah“ wurde 1992 in Frankreich neu aufgelegt und von Michaela Ott ins Deutsche übertragen. Jean Michelez ist die Hauptfigur des Romans und einer jener freudlosen und einsamen Gestalten, die alle Bücher Boves bevölkern, Kleinbürger, die ihre empfindliche Seele hinter Risikofurcht und Korrektheit verschanzen, um sich vor den großen und immer lauernden Enttäuschungen des Lebens zu schützen; ihre Pläne und Absichten sind Manöver gegen die Traurigkeit, und sie mißlingen ständig, weil sie an die Stelle des Schmerzes nur die Ödnis des nicht gelebten Lebens setzen können. So erfährt auch Jean Michelez in seiner Jugend eine Reihe von Ablehnungen, nur weil er sich zu heftig „nach einer vollkommenen Freundschaft“ sehnt – für die er freilich nicht allzuviel tut: die Lieblosigkeit der anderen und die eigene Liebesunfähigkeit spielen bei Bove stets einander zu: „Was er nie hinnehmen wollte, war zu geben, ohne zu erhalten.“ Dieses Credo der Kleinlichkeit führt Jean Michelez geradewegs in das auf mühsame Absicherungen angewiesene Glück des Spießertums hinein: Ordnung reguliert seine Gefühle, und das Geld wird zum einfachen, aber exakten Maßstab für seinen Gerechtigkeitssinn. Bis das alles eines Tages wieder durcheinandergerät: eine Nachbarin taucht bei Jean Michelez auf und bittet ihn unter Tränen um Hilfe für ihr krankes Kind Dinah. Das ist eine starke Herausforderung an sein schnell reizbares Mißtrauen. Doch als er endlich begreift, daß da eine Chance an ihn herantritt, aus seinen Borniertheiten auszubrechen, ist es schon zu spät. Dinah stirbt, bevor er sich zu wirklicher Hilfe durchringt.

Bove erzählt diesen Schluß nicht als Geschichte einer wenn auch verspäteten Selbstüberwindung, sondern als Konsequenz einer extremen Zögerlichkeit. Ihn interessiert nicht die Moral seines Helden, sondern dessen uneindeutige Handlungsweisen und Gefühlsreste: die Wucherungen des Unauthentischen, denn in ihm sieht er die Substanz der menschlichen Wirklichkeit selber. Der Sinn für das treffende Detail, den Beckett an Emmanuel Bove gerühmt hat, ist nämlich im wesentlichen ein Sinn für die alltäglichen Verhaltensweisen, die ihre literarische Kontur hier allein dadurch gewinnen, daß in ihnen die letzten Regungen von viel weiter greifenden Wünschen wahrgenommen werden. „Es genügte“, so heißt es an einer Stelle über Jean Michelez, „daß sich eine Unterhaltung in die Länge zog, und schon kam es ihm so vor, als ob sich etwas zusammenbraute. Er beeilte sich, ein anderes Thema zu finden. Man hätte meinen können, daß nur Sprunghaftigkeit ihn in Sicherheit wog.“ Solche pointierten Sätze (der Roman ist voll davon) formulieren das Banale in all seinem Ernst, denn sie verleugnen nicht seine Trivialität und markieren doch zugleich seine Herkunft aus dem Unglück. Eberhard Hübner

Emmanuel Bove: „Dinah“. Aus dem Französischen von Michaela Ott. Friedenauer Presse, Berlin 1992, 120 S., 28 DM

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