: Emotionales Verstehen
TANZ Die Hamburger Sticky Trace Company, ausschließlich mit Frauen besetzt, seziert Bewegungen, ordnet sie Gefühlen zu und verwebt sie zu Choreografien. Diesen Prozess nennt sie Teilnehmen am eigenen Leben. „Participating“ heißt das neue Stück
von Carola Ebeling
Der Oberkörper der Tänzerin biegt sich nach hinten, kippt dann nach vorn. Sie geht in die Knie, stürzt fast, richtet sich wieder auf, balanciert mit den Armen aus. Sichtbar wird die Qual, das Gleichgewicht zu halten – doch das Lächeln im Gesicht will die Anstrengung leugnen: kein Problem, ich kriege das hin. Stacey Yuen und ihre Mittänzerinnen verausgaben sich, gehen an ihre Grenzen und darüber hinaus.
Insgesamt neun junge Frauen proben auf der Bühne des Hamburger Lichthof Theaters. Kraftvoll und präsent sind sie in ihren Bewegungen. Immer wieder unterbricht Uta Engel, Leiterin und Choreografin, fragt, was die Tänzerinnen wahrnehmen; erläutert, worum es gerade geht, formuliert ihre Vorstellung der Szene und gleicht diese mit den Wahrnehmungen der Gruppe ab. Choreografin und Darstellende begegnen sich auf Augenhöhe.
Die Hamburger Sticky Trace Company, deren Mitglieder unter anderem aus Spanien, den USA und Norwegen kommen, probt ihr neues Stück „Participating“. Der enge Austausch mit den Tänzerinnen, erläutert Uta Engel, sei essenziell für ihre künstlerische Arbeit. „Mir geht es darum, emotionales Wissen sichtbar zu machen, das hat meine ganze bisherige Arbeit geprägt“, sagt sie.
Mit emotionalem Wissen meint sie jene Art des umfassenden Begreifens, bei der man eine Erfahrung nicht nur intellektuell, sondern auch emotional durchdringt. Zugleich meint der Begriff emotionale Erfahrungen, die sie als kollektive, also mit anderen Menschen teilbare begreift. Wie eben die Mühe der Tänzerin, eine Balance zu halten. Ein Teilen, das nicht über Sprache funktioniere. Uta Engel will daher „einen Raum eröffnen, in dem die Tänzer und die Zuschauer wissen, dass sie dasselbe wissen. Das ist ein momenthaftes emotionales Verstehen, kein intellektuelles“, sagt sie. „Allerdings“, stellt Tänzerin Sarah Mohr klar, „sind wir keine Frauengruppe, die mal eben ihre Gefühle ausdrückt“.
Für ihr neues Stück „Participating“ haben sie eine eigene systematische Methodik entwickelt. „Participating“ bedeutet für sie das Teilnehmen am eigenen Leben. Aus der Fülle menschlicher Seinszustände, die diese „Teilnahme“ auszeichnen, haben sie drei ausgewählt, darunter den des Suchens.
Diese Verfasstheit haben Uta Engel und ihre Tänzerinnen intellektuell, emotional und körperlich erforscht: Wie bewegt sich zum Beispiel jemand, der entschlossen sucht? Sind seine Bewegungen linear ausgerichtet, liegt ein Vibrieren darin? In einem Wechselspiel von Reflexion, tänzerischer Improvisation, Dokumentation und erneutem Erproben haben sie sich schließlich auf konkrete Bewegungsabläufe für verschiedene emotionale Zustände festgelegt.
In „Participating“ bewegen sich die Tänzerinnen in einem Lichtkasten, erst zögerlich, dann immer schneller, erschöpfter, getriebener werdend. Eine sehr dynamische Dramaturgie, die „das Nackte der emotionalen Erfahrung“ aber nicht überlagert, erläutert Engel.
Für die Tänzerinnen sei das „super intensiv“ gewesen, erzählt die 29-jährige Sina Rundel. Da man sich immer wieder in die emotionalen Zustände begeben müsse, aus denen die Bewegungen entstanden seien, „kommt man Abends mit einer Nulllinie im Kopp nach Hause. Ist halt über den Tag schon alles raus“, sagt sie lachend.
Sarah Mohr bestätigt das: „Wir erleben das, wir erzählen nicht!“ Und fügt hinzu, wie außergewöhnlich es sei, „dass wir uns in dieser Company als Persönlichkeiten und Künstler einbringen können. Und dass hier eine Gruppe von Frauen zusammenarbeitet, ohne dass Egos im Mittelpunkt stehen.“
Schon als Uta Engel die Company 2009 gründete, habe sie das Prinzip verfolgt, „starke weibliche Künstlerinnen zusammenzubringen, die nicht nur tolle Tänzerinnen sind, sondern auch selber was zu sagen haben“. Es sei aber eine intuitive, künstlerische Entscheidung gewesen, ein reines Frauen-Ensemble zu gründen, keine feministische, politisch durchdachte. Eher sei mit der Zeit die Frage dringlicher geworden, genauer zu schauen, was es heiße, eine reine Frauen-Company zu führen. Eine endgültige Antwort habe sie noch keine, ganz klar bedeute es aber, „eine Verantwortung zu übernehmen“.
Einen ersten Schritt in diese Richtung markiert das Projekt „Womens Words“: Treffen, bei denen sich die Ensemble-Mitglieder über ihr Selbstverständnis austauschen und die sich in Zukunft auch für Künstlerinnen aus anderen Sphären öffnen sollen. Konkrete Pläne gibt es aber noch nicht.
Auch ihr Projekt an einer Hildesheimer Schule mit Mädchen, die aus dem Iran, Syrien und dem Sudan geflohen sind, erweist sich als sehr konkrete und durchaus politische Mädchenförderung. Drei Tage haben Uta Engel und ihre Tänzerinnen mit geflohenen und einheimischen Schülerinnen gearbeitet. Für zwei der geflüchteten Mädchen haben sie Patenschaften übernommen und ermöglichen ihnen, weiterhin Tanzunterricht zu nehmen.
Uta Engel und ihre Tänzerinnen brennen für die Sticky Trace Company. Ohne dies ginge es auch nicht: Weil jede, die einen der begehrten bezahlten Jobs angeboten bekommt, es sich kaum erlauben kann abzulehnen, ist es schwer, eine freie Gruppe zusammenzuhalten. Das aber ist ihr Ziel. Durch Projektförderung konnten die Tänzerinnen über die drei Probenmonate zwar ein monatliches Gehalt beziehen, aber alle arbeiten nebenher. Uta Engel selbst hat auf ein Gehalt verzichtet.
Eine langfristige Förderung müsse deshalb her. „Hamburg braucht eine feste zeitgenössische Company!“, sagt sie mit Nachdruck.
Do, 17. 3., bis Sa, 19. 3., 20.15 Uhr; So, 20. 3., 19 Uhr, Hamburg, Lichthof Theater
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