piwik no script img

Emilio Vedova- RetrospektiveAls Sankt Dada Einzug hielt

Die Berlinische Galerie widmet dem abstrakten Maler Emilio Vedova eine Retrospektive. Im Zentrum: das ausufernde "Absurde Berliner Tagebuch `64".

Emilio Vedova bei der 47. Biennale in Venedig, 1997. Bild: dpa

Einen Venezianer stellt man sich anders vor. Anders als diesen wunderlichen Waldschrat, diesen zwei Meter großen Hünen mit dem prächtigen Zottelbart. Und doch, dieser Riese tanzt, er ist voller Energie, voll Rhythmus, immer in Bewegung. Er nimmt die Welt in Besitz, und sei es nur, dass er ein Stück Metall vom Boden aufhebt oder einen Draht, den er verbiegt und verformt. Was immer er in die Hände bekommt, verwandelt er unweigerlich in ein von ihm geschaffenes Ding. Er ist also kein ungefährlicher Bursche.

BASELITZ - VEDOVA

1953 hatte Emilio Vedova eine Einzelausstellung in der Galerie Springer. Dort kaufte Georg Baselitz sein erstes Vedova-Gemälde. Die Wertschätzung, die dieser Kauf ausdrückte, hat sich Baselitz bis heute für seinen Kollegen bewahrt. Daher unterstütz- te er die Idee der Berlinischen Galerie, seine "Hommage an Emilio Vedova", die auf der letzten Biennale von Venedig zu sehen war, in einem eigenen Raum in Berlin zu zeigen. Und weil diese Bilder von Baselitz der Remix einiger seiner eigenen berühmten, früheren Arbeiten sind, korrespondiert sein Raum aufs Interessanteste mit dem Raum des "Absurden Berliner Tagebuchs 64". Ein Coup.

Doch, dieser Emilio Vedova ist unbedingt ein Sohn der Serenissima Repubblica di San Marco. Anders ist die stolze Geschichte dieser Stadt nicht zu erklären. Ihr Mythos, der von unermesslichen Reichtum, enormer Macht und stupendem Kunstsinn handelt. Tolerant gegenüber religiösen und philosophischen Haltungen, bot die Republik nicht nur freiheitlichen Ideen Asyl, sondern politisch Verfolgten wie simplen Spekulanten. Sie ging daran nicht zugrunde, sondern beherrschte im Gegenteil fast ein halbes Jahrtausend lang die Weltgeschichte.

Dafür brauchte es eben unternehmungslustige Unruhestifter und ungestüme Eroberer, denkt man, während man Emilio Vedova in seinem Atelier herumfuhrwerken und seine enormen Leinwände traktieren sieht. Die Filme und Videos, die ihn bei der Arbeit festhalten, flimmern nun über die Computerbildschirme im zweiten Stock des schmalen, hohen Hauses, das er sich, nach und nach, über Jahrzehnte hinweg zusammenkaufte. Zuerst erwarb er das Dachgeschoss, es folgte der dritte und zweite Stock. So wie er sich von oben nach unten vorarbeitete, so wird jetzt - zwei Jahre nach seinem Tod im Oktober 2006 - in umgekehrter Richtung von unten nach oben aufgeräumt. Unterm Dach ist alles noch so, wie er es hinterlassen hat. Dass der Künstler die Farben und Pinsel nicht vor fünf Minuten stehen gelassen hat, zeigt dann das perfekt organisierte Archiv im zweiten Stock.

Zuvor hatte man auf der Dachterrasse einen wundervollen Blick auf die Stadt und die Lagune. Die Kirche Santa Maria della Salute liegt direkt im Blickfeld, ein bisschen weiter entfernt erspäht man die Peggy Guggenheim Collection. Emilio Vedovas Atelierhaus ist am letzten Zipfel des Sestiere Dorsoduro gelegen, gleich neben dem ehemaligen Zollamt, das nun im Besitz des französischen Unternehmers François Pinault ist. Es wird für dessen Kunstsammlung umgebaut, deren kleinerer Teil im Palazzo Grassi zu sehen ist. Pinaults Sammlung passt zum heutigen Venedig, sie ist schick, sie glänzt. Jeff Koons Valentintags-Herz am Eingang des Palazzo Grassi und die Karnevalsmasken, die allenthalben an die Touristen verkauft werden, meinen ein und dasselbe.

Emilio Vedovas Kunst dagegen ist sperrig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn seine Leinwände verharren nicht still an der Wand. Sie platzen in den Raum hinein. Sie rollen ihn auf, in riesigen kreisrunden Scheiben, Dischi, Tondi und Oltre genannt. Allein, trotz ihres wilden Gestus, ihrer scheinbar ungeordneten Farbkleckserei, des "Informellen" wie die expressive, abstrakte Malerei nach dem Krieg auf den Begriff gebracht wurde, ist seine Kunst kontrolliert, elegant, prunkvoll, gut gebaut - sehr venezianisch im Grunde genommen. Aber das wird erst an Ort und Stelle deutlich. Denn der brachiale Akt, in dem Vedova seine Malerei ins Environment überführte, ist mit dem Namen einer anderen Stadt und einem anderen Atelier verbunden. Mit Berlin, und ausgerechnet mit Arno Brekers Studio. Vedova, der Antifaschist, der gegen Kriegsende als Partisan in der Region hinter Venedig gegen die deutschen Besatzer kämpfte, nimmt den gigantischen Arbeitsplatz von Hitlers Hofkünstler mit Leichtigkeit ein. Einer Leichtigkeit, die dazu verführt, das hier entstandene "Absurde Berliner Tagebuch 64" ganz und gar der Stadt zuzuschreiben, die gerade von der Mauer zerrissen wurde, und Venedig fälschlicherweise aus den Augen zu verlieren. Es war daher gut, noch vor Eröffnung seiner großen Hauptstadt-Retrospektive in Obhut der Berlinischen Galerie mit einer kleinen Journalistengruppe nach Venedig zu reisen, um des Umfelds des Künstlers richtig gewahr zu werden.

1909 in Venedig geboren, arbeitete Emilio Vedova schon mit elf Jahren als Gehilfe in einer Fabrik. Unter schwierigen Bedingungen bildete sich der Autodidakt im Zeichnen aus. Die frühen Blätter aus den Jahren 1936 bis 1942, die in der Retrospektive der Berlinischen Galerie zu sehen sind, belegen sein Interesse an der menschlichen Figur, vor allem aber an der Architektur, den venezianischen Kirchen mit ihren prachtvollen Fassaden. Auf dem Raster der Architektur und ihrer Geometrie, das Vedova in vielfältigen, sich vielfach überlagernden Perspektiven, einer Art Hyperrekonstruktion letztlich zum Verschwinden bringt, basiert auch sein späteres, abstraktes Werk. Bis zum Ende ist diese konstruktivistische Note in seinem Werk zu entdecken.

Nach dem Krieg wird Vedova schnell bekannt. 1947 stellt er auf der 24. Biennale von Venedig aus, 1951 folgt eine erste Einzelausstellung in New York, 1954 ist er auf der Biennale von Sao Paulo vertreten, 1955 auf der ersten documenta, 1959 hat er in Kassel schon einen eigenen Raum, 1960 erhält er auf der 30. Biennale von Venedig den Großen Preis für Malerei. Und wenig später lädt ihn dann der Senat von Berlin ein, im Rahmen eines neuen "Artists in Residence"-Programm an die Spree zu kommen. Von November 1963 bis Mai 1965 experimentiert Vedova in Berlin weiter an den sogenannten Plurimi, doppelseitig bemalten Holzplatten, mit denen er die Malerei von der Wand reißt und mitten in den Raum hinein montiert, eine Idee, die er schon ein Jahr lang verfolgt. Aber weithin bekannt werden die Plurimi eben mit dem "Absurden Berliner Tagebuch 64", einem Zyklus von sieben Mehrfachgebilden, der im gleichen Jahr auf der documenta 3 zu sehen ist.

Verständlicherweise steht dieser Zyklus im Zentrum der Retrospektive. 2002 von Vedova der Berlinischen Galerie zum Geschenk gemacht, ist das kostbare Sammlungsstück erstmals in seiner ganzen installativen Wucht und Würde in Berlin zu sehen: Ein schwarzweiß gehaltener Gemälde-Korridor, in dem markante Farbeinsprengsel rote oder gelbe Signale setzen und das eine oder andere Plurimo auch ausbricht und dann wie ein bunter Schmetterling unter der Decke hängt.

Diese Installation ist kein Versuch mehr, sondern eine selbstbewusste Setzung. Vielleicht forderte schon der Entstehungsort Vedova heraus. Denn war nicht jede Arbeit, die er in dem von Albert Speer erbauten Breker-Atelier im Käuzchensteig schuf, ein pièce de résistance? Musste der Gedanke Vedova nicht beflügeln, dass mit seinen raumgreifenden, zusammengenagelten und geknoteten Bildinstallationen, seinen Materialcollagen, Sankt Dada Einzug in die unheiligen Hallen hielt? Und mit ihm der Abfall, der Dreck und die Gesellschaftskritik? Um ausgerechnet dort als das vielleicht venezianischste Erbe in Vedovas Kunst - verkörpert in seinem Selbstverständnis als durch und durch politischer Künstler - zu triumphieren?

Das rohe Holz, die groben Seile, die Zeitungsfetzen, die hingehauenen Farben und die ungegenständlichen Formen sind für Vedova ästhetisches und zugleich politisches Material. In jeder Erscheinungsform Voraussetzung für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks; für jedermanns Recht auf Selbstbestimmung und Mündigkeit. Über die Botschaft ihrer Form und ihres Materials machte die Nachkriegsabstraktion, so schien es nicht nur Vedova, die inhaltlich definierte politische Botschaft obsolet.

Doch gerade in ihrem Anspruch, schon formal politisch zu sein, war die Abstraktion mit Beginn des Kalten Kriegs besonders leicht als Propagandakunst zu instrumentalisieren. Wenig erstaunlich fanden sich ihre Förderer vor allem in den USA. Mit ihrer Unterstützung trat die amerikanische Kunst unter dem Begriff des Abstract Expressionism einen weltweiten Siegeszug an, dem gegenüber die europäische Abstraktion und mit ihr auch Emilio Vedova auf verlorenem Posten stand. Zwar blieb er innerhalb der Kunstwelt auch in den 70er-Jahren durchaus präsent. Am eindrucksvollsten belegt der in Berlin ausgestellte "Zyklus Risse II 7/78 - Plurimi auf Schienen 1-2-3", wie Vedova konsequent mit den Plurimi weiter experimentiert und sie auf die Schienen eines breiten Stahlgehäuses stellt, in dem sie dann verschoben und übereinandergeblendet werden können. Doch erst zehn Jahre später erlangt sein Werk im Zuge des allgemeinen Malereibooms wieder größere Aufmerksamkeit, zumal ihn sein heftiger malerischer Ausdruck in die Nähe des großen 80er-Jahre-Hypes rückte, also in die Nähe der Neuen Wilden.

Doch wie zuvor schon New York School und Pop-Art überdauert er, anders als deren Shootingstars, auch den Ruhm der 80er-Jahre. Denn Emilio Vedovas künstlerisches Vermögen ist seine unbändige Arbeitswut, sein nie versiegender Spaß am Experiment, an der Suche nach neuen Möglichkeiten, sein künstlerisches Konzept fortzuschreiben. Immer mehr Waldschrat, je älter er wird, tanzt er einfach weiter - und mischt mit seinen Dischi, Tondi und anderen Bildträgern den Raum der Malerei in den 80er-Jahren gehörig auf. Obwohl der kreisförmigen Scheibe etwas Maniriertes anhaftet, etwas antimodern Barockes, ist sie kein Rückschritt in Vedovas künstlerischem Programm, das die Malerei emanzipierte. Mit gutem Grund also feiert die Retrospektive ihre Entwicklung und eröffnet die Schau mit einem grandiosen Rudel dieser Scheiben, die aus der Wand drängen, den Boden okkupieren und flamboyant den Weg verstellen. In diesen Scheiben gelangt die Malerei noch einmal zu neuer Beweglichkeit, reklamiert sie einen neuen Anspruch auf Raum, Größe, Volumen und architektonische Konstruktion, einen neuen Anspruch darauf, sich auszudehnen, aber auch festzusetzen. Sie nimmt die Welt nicht länger nur virtuell in Besitz, als vorgestellte Öffnung in der Wand. Denn diese Wand ist sie ja selbst. Es darf weiß Gott als Errungenschaft gelten, dass sie diese Wand los ist, an der sie sonst immer so hübsch weggeräumt und nicht weiter im Weg ist.

bis 20. April in der Berlinischen Galerie. Katalog (Verlag Montadori/Electa, Mailand) 29,80 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare