: Elefantenjagd in Lille
Am kommenden Wochenende treffen sich Frankreichs Sozialisten / Die Basis rechnet vehement mit der Parteispitze ab / Ihr Vorwurf: Zu viel Nabelschau und keine Zukunftsprojekte ■ Aus Lille Bettina Kaps
„Ein Verein von Karrieristen, die nur noch um ihre persönliche Macht kämpfen.“ „Schluß mit der Ämterhäufung!“ „Der neue Parteichef darf nicht Präsidentschaftskandidat sein.“ Aggressiv und ungebändigt stürzen die Männer und Frauen im Kongreßzentrum von Lille über die Sozialistische Partei her, die sie kleinlaut darum gebeten hatte, Bilanz zu ziehen. Sie wollen abrechnen mit einer Partei – ihrer Partei –, die nach zehnjähriger Regierungszeit hoffnungslos abgestürzt ist: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung Ende März konnten sich von den 253 PS-Abgeordneten gerade 52 behaupten.
Emotionsgeladene Debatten wie die in Lille finden seit April in ganz Frankreich statt. Denn die Parteispitze, die zuvor arrogant auf die einfachen Mitglieder herunterschaute, hat angeordnet, daß die Diskussion „von unten nach oben“ getragen wird. Ähnlich wie bei der deutschen SPD hoffen auch in Frankreich die völlig ausgelaugten Macher, daß die linken Aktivisten ihnen zu neuem Schwung und neuer Legitimität verhelfen können. An diesem Wochenende kommen deshalb 3.000 Delegierte aus ganz Frankreich zu états généraux, also zu einer Generalversammlung, in Lyon zusammen, um die Meinungen der Basis vorzutragen. Die Ergebnisse sind als Grundlage gedacht für einen konstituierenden Kongreß Ende Oktober, auf dem über das weitere Schicksal der PS entschieden werden soll: über ihren Namen, ihr Programm, ihre Organisationsform, ihren Chef, mögliche Bündnispartner. Interims-Parteichef Michel Rocard hofft, daß dieser Prozeß zur Erneuerung der „Linken, und zwar der ganzen Linken“, führen wird.
Die Aufforderung zur Debatte entspricht dem Bedürfnis der Basis. „Die Leute wollen ihre Wut ausspucken“, sagt Denise Cacheux, die einen Parteiverband in einem Vorort von Lille leitet. Hier, im Département du Nord, das sich von der Hafenstadt Dunkerque an der belgischen Grenze bis nach Maubeuge entlangzieht, sind die Sozialisten besonders zornig. Das Land der Bergleute, der Stahl- und Textilarbeiter war „immer“ sozialistisch gewesen. Lille wird seit 20 Jahren von Pierre Mauroy regiert, einer sozialistischen Vaterfigur, der jedoch mehr in der Geschichte der Partei verankert ist, als daß er ihre Zukunft gestaltet. Doch eine Arbeitslosenrate, die an mehreren Orten über 17 Prozent beträgt, hat alte Klassenzugehörigkeiten und Solidaritäten aufgelöst.
Ihre ersten Prügel haben die Sozialisten im Norden bereits bei den Départementswahlen vom März 1992 eingesteckt: Die rote Hochburg kippte um, der Generalrat wird seither rechts regiert. Schlimmer noch: Auch die Front National schlägt Wurzeln. „Deshalb haben wir die gleiche Übung schon vor einem Jahr exerziert“, sagt Denise Cacheux. „Wir haben uns gefragt, was wir hier im Norden falsch gemacht haben, und auch, was auf nationaler Ebene schiefläuft. Das hat keinerlei Wirkung gehabt. Deshalb sagen jetzt viele: Wir erklären der Parteispitze ein letztes Mal, wie wir uns sozialistische Politik vorstellen. Wenn die Partei uns jetzt nicht hört, dann ist Schluß, dann werden wir die PS verlassen. Viele drohen sogar mit Wahlboykott!“ Denise Cacheux ist selbst ein Opfer von Parteimanövern geworden, die die PS bei ihren Anhängern derart in Verruf gebracht haben. 13 Jahre lang war sie als eine von ganz wenigen Frauen Abgeordnete in der Nationalversammlung; im Frühjahr wurde sie nicht mehr aufgestellt: ein sozialistischer Bürgermeister hatte Leute, denen er dienlich gewesen war, aufgefordert, in die PS einzutreten und für seine Aufstellung zu stimmen. „Mehreren meiner Kollegen ist dasselbe passiert“, sagt Denise Cacheux.
Die nordfranzösischen Sozialisten in Lille kritisieren vor allem das Funktionieren der Partei. „Die Elefanten haben sich nur bei Wahlen für uns interessiert, zum Plakatekleben“, empört sich ein Gewerkschafter aus Maubeuge. Elefanten, so nennen die Sozialisten ihre Bonzen. Der Mann beklagt deren Sucht nach Ämterhäufung und die Dominanz der Flügel, „die nicht Ideen verteidigen, sondern Pfründe“. Diese Zirkel, die sich bezeichnenderweise stets nach ihren Anführern „Rocardianer“, „Fabusianer“, „Jospinisten“ nennen, werden in Lille als schlimmstes Übel angeprangert. Die offizielle Forderung des Nordens an die Generalversammlung in Lyon lautet daher: Schafft die Parteiflügel ab! Die Fehler der Partei werden in Lille klar analysiert. Beim Thema „Projekt und Identität der Sozialisten“ verläuft die Diskussion diffuser, die Vorschläge sind selten konkret durchdacht. Dennoch schält sich ein Hauptthema heraus: Kampf der Arbeitslosigkeit durch neue Ideen wie Arbeitsteilung. Die sozialistische Basis lehnt den Fatalismus ab, mit dem ihre Chefs den Verlust von Arbeitsplätzen in Kauf genommen haben. „Seit ihrer wirtschaftspolitischen Wende im Jahr 1983 hatten die nur noch ein Ziel: beweisen, daß sie genauso gute Verwalter sind wie die Rechte“, kritisiert ein Ökonom aus Lille. Die Leute brennen darauf, die Dinge in die Hand zu nehmen, zu steuern, neue Wege einzuschlagen, statt sich fast tatenlos den Zwängen des Weltmarktes und der Konjunktur zu beugen.
Rückbesinnung auf die „Werte der Linken“ wird in Lille einhellig gefordert. Was das genau heißt, wird nicht klar. „Uns fehlen konkrete Vorschläge für morgen und eine ideologische Analyse der Veränderungen in der Welt“, bedauert Denise Cacheux. „Die PS hat keine Oppositionskultur mehr.“
Es ist eine trübe Phase zwischen Niederlage und erhofftem Neuanfang, von dem keiner weiß, ob er überhaupt noch bis zu den alles entscheidenden Präsidentschaftswahlen 1995 zustande kommen wird. In ihrer selbstzerfleischenden Nabelschau macht den Sozialisten nur ein Phänomen Mut: Der Zustrom der „Sympathisanten“. Um den Mitgliederschwund zu bremsen, hatte die PS allen Interessenten Beteiligung samt Stimmrecht an der Vorbereitung der Generalstände angeboten, sofern sie bis Mitte Juni für 30 Mark eine „Sympathisanten-Karte“ gekauft haben. Mindestens 5.000 solcher Karten konnte sie loswerden – bei rund 10.000 Parteiaustritten im Jahr kein schlechter Erfolg. „Das ist wirklich ein Beweis ihrer Öffnung“, freut sich Pierre Leconte, den eine Sektion sogar zu einem ihrer drei Delegierten gewählt hat, obwohl sie den arbeitslosen Lehrer nur von vier Diskussionsabenden kannte. Auch Jean Chepmen aus Dunkerque mochte sich der PS erst nach ihrem Sturzflug annähern: „Das Wahldebakel und der Selbstmord von Pierre Bérérgovoy haben allen zu denken gegeben“, sagt er. „Ich hoffe, daß die Lektion auch in Lyon beherzigt wird, sonst sind die mich gleich wieder los.“
Nach 40jähriger Parteierfahrung ist Denise Cacheux skeptisch, ob sich die Basis in Lyon wirklich durchsetzen kann. Sie rechnet erneut mit Leitanträgen der Elefanten. So erfuhr sie, daß es schon 40 Wortmeldungen für die Generalstände gab, bevor die Delegierten überhaupt gewählt worden waren; daß längst Texte der Fabiusianer kursieren, die von diesen Rednern verteidigt werden sollen. „Das ist völlig undemokratisch. Ich befürchte, daß wieder dirigiert und manipuliert wird und die Basis das Wort nicht wirklich erhält.“ Doch mit einer Gruppentherapie, die nur dazu dient, Dampf abzulassen, wollen sich die Parteimitglieder nicht zufriedengeben.
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