Eishockeynation Russland: Es darf nur einen Sieger geben
Die russische Sbornaja muss die Goldmedaille holen. Alles andere würden die einheimischen Fans nicht verzeihen. Es geht um Wiedergutmachung.
SOTSCHI taz | Ganz leise ist es im „Großen Eispalast“. 24 Eishockeyspieler machen Dehnungsübungen auf dem Eis. Alle Volunteers, die mitbekommen haben, dass die russische Eishockeynationalmannschaft ihr erstes Training in Sotschi abhält, schleichen sich in die Halle.
Die Blicke der sonst so professionell grimmig dreinblickenden Security-Mitarbeiter werden mild. Es passiert nicht viel unten auf dem Eis und doch geschieht etwas Besonderes. Alle in der Halle wissen: Da unten zwischen den Toren bereiten sich die Männer, die Olympia zum ganz großen Glanz verhelfen sollen, auf ihren ersten Einsatz vor. Pssst, leise! Nicht stören!
Am Mittwoch startet das olympische Eishockeyturnier der Männer in Sotschi. Für viele ist das der eigentliche Beginn der Olympischen Spiele. Im russischen Fernsehen haben die Eishockeyprofis die Eiskunstläufer als Hauptdarsteller schon abgelöst. Und in keinem Bericht über die Sbornaja, wie die Mannschaft genannt wird, gibt es auch nur den Hauch eines Zweifels daran, dass es am 23. Februar nur einen Sieger geben darf: Russland.
„Ich weiß, dass ich die Verantwortung trage“; sagt Sinetula Biljaletdinow nach der Trainingseinheit. Er soll die Sbornaja zum Sieg coachen. „Aber Angst habe ich nicht“, fügt er hinzu und lächelt.
Freundschaft oder Guillotine
Vor vier Jahren in Vancouver haben die Russen das Eishockeyturnier als Sechste beendet. „In anderen Ländern bemüht man sich, Sportler nach Niederlagen wieder aufzubauen. In Russland ist es so: Gewinnen wir, sind alle unsere Freunde. Verlieren wir, will man auf dem Roten Platz gleich die Guillotine aufstellen“, sagte Biljaletdinows Vorgänger im Traineramt, Wjatscheslaw Bykow nach der 3:7-Schlappe gegen Kanada. „Ich habe keine Angst“, wiederholt Biljaletdinow. „Ich habe keine Angst.“
Viel sagt der Trainer nicht, der als Spieler den bittersten Moment in der Geschichte des russischen Eishockeys erlebt hat, die Finalniederlage der seinerzeit als unschlagbar geltenden UdSSR-Auswahl gegen die USA bei den Spielen 1980 in Lake Placid. Er war beim Miracle on Ice dabei, das allgegenwärtig ist bei den Spielen von Sotschi. Vor jedem Wettbewerb läuft ein PR-Jingle über die Riesenleinwände, der an magische olympische Momente erinnert.
Einer dieser Momente ist das Eiswunder von 1980. Gut kommt das nicht an auf den Tribünen. Manchmal wird gebuht. Die russischen Sportfans werden sich wohl nie damit abfinden, dass ihr Team nicht mehr unschlagbar ist. In ihnen lebt die Erinnerung an die Glanzzeiten sowjetischer Eishockeyperfektion.
Dabei hätten sie sich an Pleiten gewöhnen können. Seit 16 Jahren befindet sich das Team bei Olympischen Spielen auf einem beinahe stetigen Weg nach unten. 1998 in Nagano gab es Silber, vier Jahre später in Salt Lake City Bronze. In Turin 2006 verlor die Sbornaja das Spiel um Platz drei gegen Tschechien. Dann kam der sechste Platz von Vancouver.
Hat er Angst?
„Wir haben 1984 Wiedergutmachung betrieben“, sagt dazu Wladislaw Tretjak. 300 Journalisten, die meisten aus Russland, hören zu, als der dreifache Olympiasieger, der Torwart, den sie den Mann mit den 1.000 Händen nannten, spricht. Viele klatschen. Auch Tretjak, der heute Präsident des russischen Eishockeyverbands ist, gehört zu den Verlierern von Lake Placid. Er gehört aber auch zu den Triumphatoren von Sarajewo vier Jahre danach. Die Botschaft dürfte bei den Spielern angekommen sein: Macht endlich einmal etwas gut!
Alle 25 Spieler waren zur Pressekonferenz angetreten. Sie saßen nebeneinander auf dem Podium und hörten ihrem Präsidenten zu. „Ich spüre den Druck, der von den Journalisten heute hier ausgeht“, sagt Alexander Owetschkin, einer der großen Stars des Teams. „Sonst spüre ich nichts.“ Der Mann, der fast 10 Millionen US-Dollar im Jahr bei den Washington Capitals in der Profiliga NHL verdient, gibt sich cool. Hat er Angst? „Wir haben gesehen, wie die Kanadier vor vier Jahren gewonnen haben. Diesmal sind wir zu Hause, diesmal ist das unser Eis.“
Der reiche Mann aus Moskau, der sich Alexander der Große nennen lässt, weiß, dass er als Versager in die russische Sportgeschichte eingehen wird, sollte die Operation Gold scheitern. Über die Vorbereitung des Teams kann er nicht viel sagen. Die hat bislang nur für einen Teil der Mannschaft stattgefunden. Die Spieler, die in Russland unter Vertrag sind, haben zwei Wochen lang zusammen in Kasan gearbeitet. Die 16 Profis aus der NHL sind erst am Montag angereist. Nur wenige Stunden vor der ersten Übungseinheit.
Waleri Nitschuschkin, der 18-jährige Jungstar, der in Dallas spielt, ist direkt vom Flughafen zum Training gekommen – in kurzer Hose und mit Adiletten. „Kein Problem“ sei das. Und, hat er Angst? „Ich will, dass die Mannschaft gut spielt, alles andere ist unwichtig.“ Nitschuschkin wird wissen, dass das so nicht stimmen kann.
Mit den Spielern sprechen
Direkt nach dem ersten Training stellt er sich den Journalistenfragen. Die meisten der Reporter wundern sich, dass sie überhaupt mit den Spielern sprechen dürfen. So etwas haben sie noch nie erlebt. Schweigende Athleten, mauernde Trainer und Funktionäre sind sie gewöhnt. Auf dem Weg zu Gold in Sotschi scheint das russische Team auch auf Glasnost zu setzen.
25 Spieler, zwei Trainer und der Verbandspräsident stellen sich den Fragen der Journalisten. Auch wenn das Spektakel nach 20 Minuten schon wieder vorbei ist, nur der Trainer und ein paar der Superstars zu Wort gekommen sind, nicht viel mehr gesagt wurde, als: „Uns geht es gut“ und: „Alles okay!“, darf der Auftritt getrost als Sensation gewertet werden.
Am Donnerstag wird dann endlich gespielt. Was gegen den Eishockeyzwerg Slowenien „kriegswichtig“ sei, wisse man, sagt Trainer Biljaletdinow. Der Feldzug kann beginnen. Die erste große Schlacht findet dann am Samstag statt. Da geht es gegen die USA.
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