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Einziger Ausweg ist der Griff in die Taschen der Bürger

■ Während Finanzminister Waigel wohlfeile Sparprogramme aus dem Hut zaubert, wächst die Erkenntnis, daß die üblichen Retuschen diesmal nichts mehr helfen

Genau 73 Tage währte die Einsicht über die ungewöhnliche Aufgabe. Drei Tage und fast ebenso viele Nächte hatten sich Kanzler Kohl, die Ministerpräsidenten und Vertreter der Opposition Mitte März im Kanzleramt verbarrikadiert, um über den Solidarpakt zu verhandeln. Am Ende der verzweifelten Suche nach Milliarden für den Aufbau Ost war der illustre Kreis zwar in der Sache nicht viel weiter, über das Erreichte aber geradezu entzückt. Ein wichtiger Beitrag zur Vollendung der deutschen Einheit sei erzielt, hieß es; der Kanzler freute sich über das gute Ergebnis, und selbst der damalige SPD-Chef Engholm konnte einen „Bomben-Fortschritt“ für die Menschen im Osten ausmachen.

Die Sparrunde aber geriet mehr als mager: vorerst keine Steuererhöhungen, auch keine Neuauflage des Solidaritätsbeitrags, geschweige denn eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige. Mit Rücksicht auf den fragilen gesellschaftlichen Konsens wurden auch die beabsichtigten gravierenden Leistungskürzungen bei Arbeitslosen und Bedürftigen wieder fallengelassen. Hinter dem Sprachungetüm Solidarpakt blieb, weil sich fast nichts änderte, alles schön, alles gut. Schnell wurde sich zum Gruppenfoto gegenseitig noch einmal auf die Schulter geklopft, die verabschiedete Mogelpackung nahm ihren Lauf.

Seit Dienstag gilt die neue Sprachregelung „Spar- und Konsolidierungsgesetz“, und sie lautet, wie könnte es anders sein: nächste Ausfahrt Sparen. Fassungslos starren die Volksvertreter wieder in die Abgründe, von denen sie, wie sie wortreich beklagen, bis zuletzt nicht die blasseste Ahnung hatten. Rund 20 Milliarden, soviel wie beim letzten Mal, will Finanzminister Theo Waigel (CSU) diesmal zusätzlich einsparen oder irgendwie umschichten. Doch von einer auch nur ansatzweisen Bewältigung der Schuldenkrise ist der Staat damit noch weit entfernt.

Letzter Stand der permanenten Bonner Krisenoperation Haushalt: Nach der jüngsten Steuerschätzung liegt der Fehlbetrag in diesem Jahr nicht – wie mit Waigels bescheidenen Einmaleins- Künsten vorausgesagt – bei 38 Milliarden, sondern bei 67,6 Milliarden Mark. Die Bonner Haushälter kamen mit dem Rechnen nicht mehr nach: Im Sommer 1992 betrug die geplante Neuverschuldung für 1993 noch 38 Milliarden, vor Weihnachten waren es bereits über 45 Milliarden, im Januar dann 53 Milliarden. Die harte Realität wollte sich nicht an Waigels Schönfärberei halten.

Ausgerechnet bei den Steuereinnahmen hatte sich der oberste Kassenwart total verschätzt: Geblendet von den optimistischen Wirtschaftsprognosen der Konjunkturapostel, wurde der Posten zu positiv angesetzt. Angesichts der schweren Rezession mußten Waigels Rechenknechte zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, daß sie mit den üblichen Retuschen diesmal nicht über die Runden kommen. Dabei ist die Rechnung ganz simpel. Ein Prozent weniger Wachstum bringt einen Steuerausfall von rund acht Milliarden Mark. Da hilft selbst ein Griff in die Trickkiste nicht mehr viel, es muß Masse in den Topf.

Doch wie und vor allem wo knapsen? Der Finanzminister, mehr durch seine wortschöpferischen Fähigkeiten („Erblastenfonds“, „Föderales Konsolidierungskonzept“) als durch seinen Sparwillen aufgefallen, kann sich gegen die mächtigen Lobbygruppen nicht durchsetzen. Dabei bietet der üppige Haushalt genügend Sparmasse: So erhalten allein die Bauern und die Industrie jährlich Subventionen in Höhe von über 150 Milliarden Mark. Doch Agrarzuschüsse, Kohlesubventionen, Stahl- oder Werfthilfen bleiben unangetastet, und auch der Jäger90 darf unter falschem Namen unbehelligt weiterfliegen. Nach bewährtem Muster schreien die Betroffenen und ihre Interessenvertreter immer dann laut auf, wenn es an ihre Pfründe geht – und haben offensichtlich Erfolg.

Ein kleiner Exkurs in die Ökonomie des Sparens offenbart selbst dem Laien: Der Staat spart in erster Linie, indem er die Kosten wie im Schwarzer-Peter-Spiel weiterschiebt. So beteuert Theo Waigel zum hundertsten Mal, es gebe keine Tabuzonen. Doch alle Vorschläge besitzen wenig Realisierungschancen, wenn sie erst einmal in den diversen Elefantenrunden, Geheimzirkeln und Arbeitsgruppen von Politikern, Arbeitgebern und Gewerkschaftsvertretern auseinandergenommen und anschließend zerrupft werden. Erste Reaktionen geben auch diesmal wenig Anlaß zur Hoffnung, daß es zu einer konzertierten Sparaktion kommt. Also tobt die Verteilungsschlacht vorerst weiter, wird um jede Haushaltsmilliarde bis zum Umfallen gefeilscht.

Nach der nächsten Wahl reicht die Steuerlösung nicht mehr

Das Ergebnis: Während die Politiker Reise nach Jerusalem spielen, wächst der Schuldenberg kontinuierlich weiter. Wer zwei und zwei zusammenzählen kann, der weiß, daß die klaffenden Haushaltslöcher nur noch mit höheren Einnahmen zu stopfen sind. Also bleibt als Ausweg aus dem Schuldenschlamassel nur der Griff in die Taschen der Bürger. Mineralölsteuer oder Mehrwertsteuer sind zwar ertragreiche Posten, an denen sich noch drehen läßt. Doch für eine Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen taugen auch sie nicht viel.

Weitere Details der weniger erfreulichen Auflistung über die Finanzlasten, die spätestens ab 1995 auf uns zukommen werden, machen den Ernst der Lage klar. Die Staatsverschuldung beläuft sich bereits auf über 1,6 Billionen Mark, jede sechste Mark an Steuereinnahmen wird inzwischen von der Schuldentilgung aufgefressen. Der Fonds Deutsche Einheit, mit rund 120 Milliarden Mark heute noch außerhalb des Etats aufgelegt, geht Ende 1994 auf den Bund über. Die Zuschüsse für die neuen Länder und deren Kommunen, bisher ebenfalls aus diesem Fonds bestritten, müssen der Bund und die alten Länder im Rahmen des neu geregelten Länderfinanzausgleichs entrichten. Die Schulden der Treuhand, die Ende 1994 ihre Arbeit einstellen will und ihre Bilanz mit einem Defizit von rund 275 Milliarden abschließen dürfte, werden ebenfalls von der Staatskasse übernommen. Weitere 50 Milliarden gehen für die Altschulden des DDR-Wohnungsbestands drauf. Hinzu kommen die Lasten von Bundesbahn, Reichsbahn (70 Mrd.) und Bundespost. Darüber hinaus läuft das Wirtschaftsförderprogramm in Höhe von über 100 Mrd. Mark für den Osten weiter.

Angesichts dieser Schuldengebirge prophezeien Finanzexperten schon jetzt: Spätestens nach der Bundestagswahl droht der Kahlschag. Ob unter CDU oder SPD – die Bundesbürger werden dann nicht nur mit der bequemen Steuerlösung zur Kasse gebeten, sie müssen sich auch auf drastische Einschnitte bei den Leistungen gefaßt machen. Erwin Single

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