: Einzelkämpfer in Einzelzimmern
Das Chaos auf dem Wohnungsmarkt in Halle/ Die Gebäudewirtschaft ist ratlos: Niemand weiß, wo wer wohnt/ Hausbesetzer der linken Szene, Faschos und Skins leben mitunter auf einem Flur ■ Aus Halle Steve Körner
Ralf Bergmann hat in Halle-Neustadt gewohnt, solange er denken kann. Aber zu einer eigenen Wohnung hat es für den inzwischen 25jährigen bis heute nicht gereicht. Jedenfalls bis vor kurzem. Ralf Bergmann hatte wie alle seine Freunde einen Wohnungsantrag gestellt. Nichtsdestotrotz, Hoffnung auf dessen Realisierung konnte er sich eigentlich nie machen.
Also hat Bergmann, der bisher im Kinderzimmer der elterlichen Drei- Zimmer-Wohnung hauste, nun zur Selbsthilfe gegriffen. Er hat eine Wohnung in der halleschen Neustadt aufgebrochen und besetzt.
Denn obwohl in Halle derzeit mehr als 12.000 Wohnungsanträge bei den Behörden liegen, herrscht in der Stadt genaugenommen längst kein so großer Mangel an leerem Wohnraum. Nein, denn beinahe in jedem der sorgsam durchnummerierten knapp tausend Neubaublocks am Stadtrand stehen eine, zwei, in manchem sogar noch weit mehr Wohnungen leer.
Ralf Bergmann zum Beispiel fand, nachdem er die Tür der kleinen Einraumwohnung aufgebrochen hatte, NVA-Wehrpaß, Versicherungsausweis und einen ganzen Packen gerichtlicher Mahnungen für versäumte Unterhaltszahlungen. Hinterlassenschaft des Vormieters, der sich kurz nach der Grenzöffnung im Herbst 89 in den Westen abgesetzt hatte. „Nie wieder“ hat die Nachbarin Anne Krell etwas von ihm gehört.
Für die Gebäudewirtschaft, den größten Vermieter der Stadt ist der Mieter der Wohnung Nr. 113 nach wie vor der ausgereiste Inhaber der Zuweisung. Man hat weder Überblick über Mietzahlungen noch über die aktuelle Belegung des kommunalen Wohnraums.
Die Angestellten der Neustädter Außenstelle der „Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft Halle Neustadt GmbH“, wie die Gebäudewirtschaft unterdessen heißt, sind ratlos, wissen von nichts.
Wahrscheinlich Hunderte in der ganzen Stadt haben sich in ehemals leerstehenden Wohnungen fest eingerichtet. Die Besetzer zahlen beinahe ausnahmslos pünktlich ihre Miete, sind polizeilich in ihren besetzten Buden gemeldet und kommen über kurz oder lang mit der Forderung einer Zuweisung. Da viele von ihnen sowieso im Besitz eines Wohnberechtigungsscheines sind, hat es wenigstens bisher keinen Fall gegeben, in dem sie nicht früher oder später erteilt worden wäre.
Mit der üblichen Besetzerkultur allerdings hat die Besetzerwelle in Halle wenig zu tun. Keine kämpferischen Attitüden, keine rebellischen Plakate. Die BesetzerInnen sind fast sämtlich EinzelkämpferInnen in Einzelappartments, die sich allenfalls mit den Kontonummern für die Mietzahlung und gelegentlich mit Zigaretten aushelfen.
Daß mittlerweile dennoch manche Blocks fast vollständig von BesetzerInnen bewohnt werden, ist kein Zufall. Die früheren Knaster- Blocks mit ihren „Kaninchenbuchten“ genannten Einzimmerhöhlen von achtzehn Quadratmetern sind ein Jahr nach der Wende beinahe durchweg von ihren früheren Mietern verlassen worden. Nur die RentnerInnen, die von der Arbeiter- und Bauernbürokratie einst ausersehen worden waren, die Wiedereingliederung der hierher abgeschobenen Haftentlassenen hautnah mitzuerleben, sind geblieben.
Ihre neuen Nachbarn, obgleich Schwarzwohner, werden von den vielen Omas und wenigen Opas durchweg begrüßt. „Wenn so viele Leute eine Wohnung suchen, darf man doch nichts leerstehen lassen!“, meint Anne Krell. Und außerdem heißt es, seien die jungen Leute ja „vernünftig“ und auf „jeden Fall nicht so laut wie die Assis, die sie früher immer bei uns einquartiert haben“.
In einem Block am Ostrand der Neustadt leben einige rechte Faschos und Skins und ansonsten die überwiegend linken BesetzerInnen gar auf einem Flur. Friedlich neuerdings, denn Ruhe ist erste BesetzerInnenpflicht, wenn man nicht rausfliegen will. Immerhin sitzen im Wohnungsamt immer noch die alten Kräfte, die auf jahrelange Erfahrungen bei der Wohnungszuweisungsverhinderung verweisen können.
Alles unnötige Posten, die da bezahlt werden. Die Wohnraumverteilung läuft derweil eh längst ohne die Behörden. Der Neubau ist völlig zum Erliegen gekommen. Und die vielen, die in den Westen gehen, vermieten ihre Wohnungen natürlich viel lieber privat und zum dreifachen Mietpreis an Dritte weiter, als daß sie etwa offiziell ausziehen. Strafen sind angedroht. Aber bisher kaum vollstreckbar.
Täglich stehen diverse Annoncen in der örtlichen Presse: Für unsere Mitarbeiter aus den alten Bundesländern Drei- oder Vierraumwohnung gesucht. Prämie. Miete nach Vereinbarung. Die Marktwirtschaft hat in Halle Einzug gehalten: Wo Nachfrage ist, ist auch ein Angebot.
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