Einzelfallprüfung bei Unterhaltsrecht: Schluss mit 08/15
Alleinerziehende müssen künftig schneller eine Vollzeitstelle annehmen, entscheidet der Bundesgerichtshof. Entscheidend, so die Richter, seien aber die Umstände im Einzelfall.
Wie schnell eine geschiedene Mutter wieder ganztags arbeiten muss, hängt ganz von den Umständen des Einzelfalls ab. Dies erklärte am Mittwoch der Bundesgerichtshof (BGH). In einer Grundsatzentscheidung zum neuen Unterhaltsrecht lehnte das oberste Zivilgericht die Entstehung neuer schematischer Lösungen ab (Az.: XII ZR 74/08). Bis 2008 galt die von den Gerichten entwickelte Faustformel: Bis zum 8. Lebensjahr des Kindes muss die geschiedene Mutter gar nicht arbeiten, bis zum 15. Lebensjahr nur Teilzeit. Dieses sogenannte 08/15-Modell ist nun endgültig passé.
Zu prüfen hatte der BGH den Fall einer geschiedenen Studienrätin, deren Sohn acht Jahre alt ist und nach der Schule bis 16 Uhr in einem Hort betreut wird. Der Vater, ein angestellter Computerspezialist, verlangte von seiner Exfrau, dass sie wieder ganztags arbeitet. Er wollte künftig neben dem Unterhalt für das Kind keinen Betreuungsunterhalt mehr für die Mutter bezahlen. Die Lehrerin wiederum möchte weiter nur 70 Prozent arbeiten, weil das Kind chronisches Asthma habe. Der Anwalt des Mannes hielt das für übertrieben, das Kind habe bloß "gelegentliche Bronchitis". Die Mutter könne ganztags arbeiten, denn sie müsse für das Kind abends lediglich "eine Kartoffel mehr in den Topf werfen". Der Anwalt der Frau sagte, so viel Ignoranz mache ihn zornig.
Der BGH entschied den Fall am Mittwoch nicht und verwies ihn zurück ans Berliner Kammergericht, das die Klage des Mannes im letzten Sommer abgelehnt hatte. Der BGH kritisierte, dass die Berliner Richter zu sehr auf das Alter des Kindes geachtet und zu wenig die Umstände des Einzelfalles aufgeklärt hatten. In einer neuen Verhandlung muss nun geprüft werden, wie schwer die Krankheit des Sohnes wirklich ist und ob in seinem Hort eine Hausaufgabenbetreuung angeboten wird.
Der 12. Zivilsenat des BGH, dem drei Frauen und zwei Männer angehören, gab außerdem zu bedenken, dass eine geschiedene Mutter auch bei perfekter Hortbetreuung und einem gesunden Kind überlastet sein könne, wenn sie neben der abendlichen Erziehung noch Vollzeit arbeiten muss. Ähnlich hatte der BGH im Vorjahr schon im Fall einer nichtehelichen Mutter argumentiert.
Seit Januar 2008 gilt das neue Unterhaltsrecht, das von Geschiedenen grundsätzlich mehr Eigenverantwortung fordert. Nur bis zum dritten Lebensjahr des Kindes dürfen geschiedene Mütter (oder Väter) zu Hause bleiben, um das Kind zu erziehen.
Wenn das Kind älter als drei Jahre ist, muss laut Gesetz geprüft werden, was billig ("angemessen") ist. Bei der kindbezogenen Billigkeit kommt es auf die örtlichen Möglichkeiten der Kindesbetreuung, aber auch auf die Betreuungsbedürftigkeit des Kindes an. Außerdem muss die elternbezogene Billigkeit geprüft werden. Wenn in der Beziehung das klassische Hausfrauenmodell vereinbart war, kann die Frau auch nach der Scheidung länger zu Hause bleiben. Dass diese Überlegung auch für nichtverheiratete Paare gilt, hat der BGH schon voriges Jahr entschieden.
Damals erklärte der BGH auch, dass die Mutter nach dem dritten Geburtstag des Kindes nicht abrupt wieder ganztags arbeiten muss, sondern erst einmal mit einer Teilzeittätigkeit beginnen kann. Damals hatte der BGH offen gelassen, ob es nun ein neues Altersphasenmodell im Stile der 08/15-Formel geben kann. Am Mittwoch hat er dieser Möglichkeit eine deutliche Absage erteilt. Es komme jeweils auf den Einzelfall an. "Das macht den Gerichten zwar mehr Arbeit," sagte die Vorsitzende Richterin Meo-Micaela Hahne, "aber diese Einzelfallgerechtigkeit ist jede Mühe wert."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr