Einpacken an der Supermarktkasse: Der brutalstfreundliche Kapitalismus
Martin Lettenmeier hat in Deutschland den Einpack-Service an den Supermarktkassen professionalisiert. Mit einem steten Lächeln. Jetzt steht die ganze Geschäftsidee auf dem Spiel.
Wenn man die Sache freundlich und fair betrachtet, hat Martin Lettenmeier durchaus etwas Gutes getan. Lettenmeier, Theologe, Hausmann, Vater von drei Teenager-Töchtern, verheiratet mit einer Militärpfarrerin, hat ein wenig Frieden dorthin gebracht, wo sich sonst der Stress eines Einkaufs staut. Er hat dafür gesorgt, dass das Einpacken an der Kasse für Supermarktkunden einfacher geworden ist, weil ihnen junge Leute helfen - lächelnd.
Er hat zwischenzeitlich 800 Schülern und Studenten einen anständig bezahlten Nebenjob verschafft und vierzig Märkten in ganz Deutschland zufriedenere Kunden. Dafür begnügt er selbst sich als Geschäftsführer mit einem monatlichen Nettogehalt von 800 Euro, sagt er.
Sein Unternehmen heißt Friendly Service. Es ist nicht klar, wie lange es noch existiert. Lettenmeier hat geschafft, was viele Marktleiter vorher vergeblich versucht haben. Er hat den Job der Einpackhilfe etabliert, der in den USA eine Selbstverständlichkeit ist und in Deutschland eine Unmöglichkeit zu sein schien. Er habe dabei, sagt er, auf zwei Komponenten gesetzt: Freundlichkeit und Fairness.
Wenn man die Sache etwas weniger fair betrachtet, könnte man Lettenmeier auch einen Ausbeuter nennen. Einen brutalstmöglichen Kapitalisten. Man muss sich dafür nur auf einen einzigen Aspekt seines Systems konzentrieren: Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass die Schüler und Studenten mit ihrer Arbeit keinen Cent verdienen. Sie bekommen nur Trinkgeld, nichts sonst.
Dieser Artikel ist aus der aktuellen vom 9./10.1.2010 - jeden Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Der Service: Mit Einpackhilfen den Kassenstress zu reduzieren, haben verschiedene deutsche Supermärkte versucht. Etabliert hat sich der Service nie. Kunden ließen sich hierzulande ungern helfen, behaupteten Marktleiter. Und: Die Helfer seien oft zu unfreundlich.
Das System: Martin Lettenmeier setzte deshalb vor allem auf Lächeln, als er mit Schülern und Studenten seine Firma Friendly Service aufbaute. Für Motivation sorgt das simple Grundprinzip: Der einzige Lohn ist das Trinkgeld. Nur nett gemeinte Hilfe überzeugt.
Die Sorge: Weil ein Wirtschaftsmagazin das Geschäftsmodell als "Null-Euro-Jobs" anprangerte, kündigten viele Märkte den Service. Sollten Ende Januar die letzten Edeka-Filialen aussteigen, ist es endgültig vorbei mit dem Friendly Service.
Lettenmeier dagegen berechnet den Supermärkten pro Einpacker und Stunde drei Euro. Das sagt er. Oder: zwischen drei und fünf Euro. So hat es ein Magazin kürzlich behauptet. Es nannte die Einpacker "Null-Euro-Jobber". Der Begriff verbreitete sich über Internetforen wie Bakterien übers Wechselgeld. Gewerkschafter protestierten, 21 Supermärkte kündigten den Service von Friendly Service sofort. Die verbliebenen 19 Edeka-Filialen prüfen nun, ob bei ihnen weiter eingepackt werden kann.
An einem verschneiten Samstag im Januar im Olympia-Einkaufszentrum München, einer weitverzweigten Shopping-Mall, Wochenendgeschiebe. Martin Lettenmeier, 47 Jahre alt, sitzt in diesem Zentrum des Kapitalismus vor einem Glas Latte macchiato, das iPhone auf dem Tisch, am Arm eine rote Plastikuhr, die blonden Haare etwas schütter. Er erklärt sein System. Lettenmeier schaut auf die Kassen des Edeka-Markts, wo fünf Gymnasiasten in den gelben Firmen-Polo-Shirts lächeln, auf Tüten zeigen, packen und sich bedanken, wenn Geldstücke in ihren Trinkgeldkassen mit den Namensschildern klimpern. "Man kann unheimlich was aus sich machen", sagt Lettenmeier. "Es zählen nur die inneren Werte. Das ist ja das Schöne." Was er damit meint: Je freundlicher ein Einpacker ist, desto mehr Geld bekommt er. Lettenmeier neigt in diesen Tagen ein wenig dazu, sein Geschäftsmodell zu überhöhen.
Die Grundlage dafür hat er vor vier Jahren gelegt. Da hat er eine Qualifizierungsmaßnahme für Arbeitslose entwickelt. Das Ziel: arbeitsrelevante Schlüsselqualifikationen vermitteln. Damals waren es tatsächlich Null-Euro-Jobs. Lettenmeier hat für die Idee einen Sozialpreis bekommen.
Dass die Motivation sich deutlich steigern lässt, wenn die Mitarbeiter merken, wie ihre Trinkgeldkassen immer schwerer werden, je freundlicher sie sind, hat er gemerkt, als er nicht mehr Arbeitslose, sondern Schüler und Studenten an die Märkte vermittelte. Lettenmeier investierte die Gewinne in ein Computersystem, das Mitarbeiter-Ranglisten errechnet - aufgeschlüsselt nach Trinkgeldschnitt, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Wer ganz oben steht, wird bevorzugt eingesetzt. Das ist knallhart leistungsorientiert. Reine Marktwirtschaft. Null Sicherheit. Aber wer sich anstrengt, macht pro Stunde acht, neun, zehn Euro. Vor oder nach Feiertagen sind es bis zu zwanzig.
Wenn es ein Null-Euro-Job wäre, fragt Lettenmeier über den Latte macchiato hinweg, warum sollte auch nur einer dieser Schüler sich ein zweites Mal an die Kasse stellen? Für nichts?
Friendly Service beschäftigt Koordinatoren, die die Schichten einteilen, und Teamleiter, die für Gerechtigkeit sorgen. Es gibt einträgliche und weniger einträgliche Kassen, deswegen rotieren die Tütenpacker. Stefanie Horn leitet an diesem Samstag das Team im Münchner Einkaufszentrum. Sie ist 19, Abiturjahrgang am Sophie-Scholl-Gymnasium, Leistungskurse Mathe und Wirtschaft. Sie hat in noblen Hotels gekellnert, aber dort hat sie sich unfreundlich behandelt gefühlt. Neulich, sagt Horn, war sie krank und hat trotzdem Tüten gepackt. Der Schnitt wurde gleich schlechter. "Aber immer noch mehr als beim Kellnern."
Wenn ein paar Stunden vorbei sind, wiegen die Packer ihre Kassenboxen und vergleichen. Die mit den leichtesten Boxen dürfen dann an die besten Kassen. Worauf es ankommt? "Lächeln", sagt Horn. Sie lernt gerade einen Neuen ein, der ist noch ein bisschen tapsig. Dem lächelt sie immer zu, dann macht er es nach. Sie sei glücklich, sagt sie, andere glücklich machen zu können.
Gut fürs Kassenklima
So wie Lettenmeier und Horn von diesem Tütenpacken schwärmen, könnte man meinen, sie wären ehrenamtliche Alleinunterhalter. Tatsächlich stapeln sie nur Einkäufe in Papierbehälter. Allerdings mit einer derart konsequenten Freundlichkeit, wie man sie sonst nur als Dauerwerbefernsehgrinsen kennt. Es wirkt bei ihnen gar nicht unangenehm und wirklich fast ein wenig erlösend. Bei all der Ruppigkeit, auf die man sonst an Kassen trifft.
Warum kann man den Friendly-Service-Leuten nicht einfach einen fixen Stundenlohn zahlen, fragen Gewerkschafter. Weil dann die Motivation weg ist, sagt Lettenmeier, und weil die Gefahr bestünde, dass sie deutlich mehr verdienen als die Kassiererinnen. Das wäre nicht gut fürs Kassenklima. Sie müssen außerdem unter der 350-Euro-Grenze bleiben, sonst würde das alles sozialversicherungspflichtig und noch komplizierter. Im vergangenen Jahr hat der Zoll sie geprüft und fand nichts zu beanstanden. Zurzeit sehen sich Edeka-Juristen das Modell an. Das könnte das Ende bedeuten. Es gibt Augenblicke, in denen wirkt es am Tisch des trubeligen Cafés so, als könne Lettenmeier deswegen fast die oberste Unternehmensmaxime vergessen. Immer positiv, immer lächeln.
Dafür strahlt seine Teamleiterin umso frischer. Es lohnt sich. Vier Stunden Arbeit. 52 Euro.
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