: Einmal im Leben durch den Tunnel
In drei Stunden von London nach Brüssel, ohne das Meer auch nur zu sehen: „Ein Traum wird wahr, nur 112 Jahre zu spät“ / Betreibergesellschaft hat 17 Milliarden Mark Schulden ■ Aus dem „Eurostar“ Ralf Sotscheck
Die fünf Geschäftsleute, alle in dunklen Anzügen und mit schwarzen Lederaktenkoffern, stehen in der Bahnhofshalle und starren nach oben. Dort, unter dem Dach, schweben zehn Fische aus Aluminium und Glasfaser. Sie sind an dicken weißen Schnüren an der Decke befestigt. Acht der Tiere sind gut drei Meter lang, die anderen beiden bringen es auf knapp fünf Meter. Plötzlich kommt Bewegung in den Schwarm. Angetrieben von einem Motor im Kopf, schlängeln sich die Sandaale – um solche handelt es sich nach Auskunft des Künstlers Jean-Luc Vilmouth – heftig hin und her. Eine Minute später haben sie sich wieder beruhigt. Die Fische, so meint der britische Staatssekretär Stephen Dorrell, „haben etwas Humor und eine gewisse Leichtherzigkeit in das Gebäude gebracht“.
Es handelt sich nicht um irgendein Gebäude, sondern um den fast einen halben Kilometer langen preisgekrönten neuen Waterloo- Bahnhof aus Glas und Stahl, der wie ein Wurm aus dem alten, kompakten Bahnhof im Herzen Londons herauswächst. Von hier fahren die Eurostar-Züge nach Paris und Brüssel. Jedesmal wenn ein Zug ein- oder ausfährt, beginnen die Aale zu zittern. Vilmouth, dessen Werk umgerechnet eine halbe Million Mark gekostet hat, war mit der Eisenbahnfahrt nicht recht zufrieden. „Man fährt von Paris nach London und merkt überhaupt nichts vom Meer“, sagte er, als seine Kunstfische vor kurzem eingeweiht wurden. Die Fische sollen dieses Manko ein wenig beheben.
Der Bahnhof erinnert an einen Flughafen, und mit Flugzeugen konkurrieren die Züge ja auch: drei Stunden von Stadtmitte zu Stadtmitte – auf dem Luftweg braucht man länger. Nachdem man die Fahrkarte in einen elektronischen Schlitz gesteckt hat, öffnet sich die Sperre automatisch. Danach muß man das Gepäck auf ein Rollband legen und durch einen Metalldetektor gehen. Im Januar hatte der Observer die Sicherheitsvorkehrungen in Grund und Boden verdammt. Bei Stichproben, die das Blatt vorgenommen hatte, war herausgekommen, daß man die Detektoren mühelos umgehen oder Gepäck im Zug deponieren konnte, ohne selbst mitzufahren. Im unteren Stockwerk des Bahnhofs befindet sich eine Ladenzeile: Sock Shop, Zeitungsladen, Buchladen, Body Shop, zwei Cafés. An jeder Ecke warten blau- uniformierte Angestellte, um den Passagieren den Weg zur richtigen Rolltreppe zu weisen. Da die 18 Waggons fast vierhundert Meter lang sind, gibt es für jeden Zugabschnitt eine bestimmte Rolltreppe, um ein Chaos auf den Bahnsteigen zu vermeiden. Noch besteht diese Gefahr jedoch nicht: Nur wenige Menschen verlieren sich in dem Bahnhof, der eigentlich für 15.000 Passagiere pro Stunde ausgelegt ist – bisher sind es lediglich 8.000 pro Tag.
Nur zwei Züge fahren täglich nach Paris und Brüssel, ab Herbst sollen sie aber im Stundentakt verkehren. Das Eurostar-Unternehmen European Passenger Service ist dennoch zufrieden: Bis Ende vergangenen Jahres hat man Fahrkarten im Wert von umgerechnet knapp 30 Millionen Mark verkauft – bei mehr als 17 Milliarden Mark Schulden freilich nur ein „Tropfen im Ozean“, wie ein englisches Sprichwort es treffend ausdrückt.
Vor neun Jahren, am 12. Februar 1986, unterzeichneten der französische Präsident François Mitterrand und seine britische Amtskollegin Margaret Thatcher in Canterbury den Vertrag über den Kanaltunnel. Damals bewarfen Tunnelgegner den Rolls-Royce des Präsidenten mit Eiern, und die Menge schrie: „Froggy, Froggy, Froggy, out, out, out!“ Frösche – das ist das Schimpfwort für Franzosen. Im vergangenen Mai kehrte Mitterrand nach England zurück, diesmal durch den Tunnel. Als der Zug durch Südengland gen London fuhr, bemerkte Mitterrand, daß man bei der Bummelfahrt wenigstens die liebliche Landschaft genießen könne. Sarkasmus? Viele EngländerInnen nahmen ihm die Bemerkung übel, weil er damit einen wunden Punkt ansprach: Die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke von London zum Tunnel mußte immer wieder verschoben werden und wird nun erst im nächsten Jahrtausend fertig. Dann wird die Fahrzeit um eine halbe Stunde kürzer. Bis es soweit ist, muß der Eurostar mit den Gleisen der Vorstadtbahn vorliebnehmen.
Die fünf Geschäftsleute haben es sich inzwischen auf den breiten Sesseln in der ersten Klasse bequem gemacht. Der etwa 35jährige David Attwood, der für eine mittelgroße Computerfirma in Kensington arbeitet, muß zwei- bis dreimal im Monat zur Niederlassung in Brüssel. Er hat seinen Laptop aufgeklappt und sein Handy ausgepackt. Auf den braunen Tischchen zwischen den sich gegenüberliegenden Sitzen sind kleine Leselampen mit rosa Plastikschirmen angebracht. „Früher bin ich nach Brüssel geflogen“, sagt Attwood, „aber im Zug kann ich arbeiten und verliere keine Zeit. Am Ende des Abteils gibt es sogar ein kleines Konferenzzimmer.“ Dort spielen zwei Männer Backgammon.
Terry Carlisle, der in einem Exportgeschäft arbeitet, ist vom Eurostar weniger begeistert. „Ich war vor drei Wochen auf dem Rückweg von Brüssel, als in der Lokomotive ein Schwelbrand ausbrach“, erzählt er. „Wir standen stundenlang auf freier Strecke in Belgien, bis endlich eine Ersatzlokomotive eintraf. Wenn das im Tunnel passiert wäre, hätte es eine Katastrophe geben können.“
Die Eurostar-Passagiere mußten bisher schon so manches Mißgeschick erleben. Einmal kam der Zug in Waterloo nicht vom Fleck, ein anderes Mal ging der Motor auf halber Strecke zwischen Paris und Calais in Flammen auf. Bereits in der Testphase war es zu vier Zwischenfällen gekommen: Unter anderem wurde aus einer Übung plötzlich Ernst, als nach einem Kurzschluß achthundert Menschen tatsächlich evakuiert werden mußten. Ein weiteres Mal blieb der Zug in der Grafschaft Kent liegen und mußte schließlich abgeschleppt werden.
In der zweiten Klasse sitzt man wie im Flugzeug. Allerdings muß die Hälfte der Passagiere mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzen, weil die Waggons in beiden Richtungen eingesetzt werden, ohne am Zielbahnhof zu wenden. In die Rückenlehnen der graugelb gestreiften Sitze sind ausklappbare Tabletts eingebaut. Essen und Getränke muß man sich im Buffetwagen selbst besorgen, kostenlose Verpflegung gibt es nur in der ersten Klasse.
Joanne Waters, eine Mittvierzigerin im blauen Kostüm, hat von ihrem Mann eine Tagesrückfahrkarte zum Geburtstag bekommen. „Es ist ein unbeschreibliches Gefühl – als ob wir mit Europa neu verbunden sind“, sagt sie. „Das sind wir ja auch“, entgegnet ihr Mann John, dessen braunkariertes Jackett überhaupt nicht zu der petroleumblauen Hose paßt. „Die Landverbindung zwischen Südengland und Nordfrankreich ist erst vor 15.000 Jahren abgebrochen, als die Straße von Dover entstand.“
Fast unmerklich setzt sich der Zug in Bewegung und zuckelt durch die südlichen Stadtteile Londons. „Wir fahren schneller, als man glaubt“, versichert der Schaffner, „im Eurostar täuscht das ungemein.“ In Brixton, einem Arbeiterviertel mit hohem schwarzem Bevölkerungsanteil, hat jemand seinen Protest gegen die Gesundheitspolitik in großen weißen Lettern an die Mauer des Bahngeländes gepinselt: „Unterstützt die Krankenhausangestellten!“
Nach einer Stunde kommt aus den Lautsprechern die Ansage, daß man den Tunnel erreicht habe. Es wird still im Abteil, die meisten schauen aus dem Fenster, was jedoch bald langweilig wird, da der Tunnel nicht beleuchtet ist. In der ersten Klasse werden jetzt Lachsschnittchen und Champagner serviert.
Gar nicht weit von der Eurotunneleinfahrt führt an den Shakespeare-Klippen in Dover ein weiterer Tunnel unter den Ärmelkanal, endet jedoch abrupt nach anderthalb Kilometern. Es war Baumeister William Low, der das ambitionierte Projekt 1867 begonnen hatte. 1882 blies Königin Viktoria das Unternehmen wegen des preußisch-französischen Krieges ab. Die englischen Armeeoffiziere hatten befürchtet, die französischen Soldaten könnten durch den Tunnel nach England einmarschieren. In der Nähe von Calais gibt es das Gegenstück zu Lows Tunnelstück, das drüben von Ferdinand de Lesseps gebaut wurde. Lows Urenkel John und sieben seiner Verwandten waren bei der Jungfernfahrt im November dabei. „Ein Traum ist wahr geworden“, sagte der 63jährige John Low damals, „es ist phantastisch – nur 112 Jahre zu spät.“
Jim Lynch hat andere Sorgen. „Warum hat der Zug keinen Duty- free-Shop?“ beschwert er sich. „Auf den Kanalfähren gibt es so etwas doch.“ Der Europäische Ministerrat hat den Reedereien eine Galgenfrist bis 1999 eingeräumt, dann müssen die zollfreien Läden dichtmachen.
Eurotunnel hat gegen diese Sondergenehmigung Klage eingereicht. Kommt das Unternehmen damit durch, würden den Reedereien umgerechnet über 300 Millionen Mark Profit im Jahr durch die Lappen gehen. Die Fährpreise müßten dann um bis zu 40 Prozent angehoben werden – was den Tunnelbetreibern natürlich Schadenfreude bereiten würde.
Auf ein Schiff würde Jim Lynch nur im Notfall einen Fuß setzen. Der Siebzigjährige hat sein ganzes Leben bei der britischen Eisenbahn gearbeitet. „Schon mein Vater hat beim Eisenbahnbau geschuftet“, sagt er, „und mein Großvater auch. Er ist in den zwanziger Jahren aus Irland herübergekommen. Viele Iren haben damals beim Eisenbahnbau das Leben verloren – genauso wie beim Bau des Kanaltunnels.“
Nachdem der Eurostar 21 Minuten lang mit 160 Kilometern pro Stunde vierzig Meter unter dem Wasser entlanggesaust ist, taucht er wieder über Tage auf. „Es war ein ähnliches Gefühl wie beim Gang durch den Fußgängertunnel unter der Themse hindurch nach Greenwich“, konstatiert der alte Mann trocken. Kurz darauf erreicht der Zug seine Höchstgeschwindigkeit von 300 Kilometern in der Stunde, wie die Lautsprecherstimme stolz verkündet.
Die nordfranzösische Landschaft fliegt vorbei – oder ist es schon Belgien? Gut drei Stunden nach der Abfahrt in Waterloo läuft der Eurostar im Brüsseler Südbahnhof ein. Jim Lynch erkundigt sich beim Schaffner nach dem nächsten Zug zurück nach London. „Ich war noch nie auf dem europäischen Festland“, meint er. „Was soll ich auch in Brüssel? Ich verstehe ja doch kein Wort. Aber als Eisenbahner mußte ich einmal in meinem Leben durch den Tunnel fahren.“
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