: Einheit als Phantasma
■ Gut gegen die Neue Rechte: Hinweis auf die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Mittelweg 36“
Wohl kaum eine Frage hat in den vergangenen Jahren größere Karriere gemacht als die nach der nationalen Identität. Wäre man vor einem Jahrzehnt noch gefragt worden, ob man so etwas für nötig halte, man hätte gar nicht erst nach einer Antwort gesucht, sondern sich gleich an die Stirn getippt. Mittlerweile muß man für jeden Hinweis dankbar sein, der einen weiterhin vor der Frage gewappnet sein läßt. Einige stehen in der aktuellen Ausgabe von Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
So ist es ja zum Beispiel schon mal interessant, daß nicht nur Neurechte nach der deutschen Vereinigung eine nationale Identität einklagen, sondern auch (Ex- oder nicht Ex-) Linke ihre nationalen Gefühle entdeckten. In seinem Beitrag „Deutscher als Helmut Kohl. Nationale Identifikationsgefühle von links und ihre jüngste Einholung von rechts“ kann Richard Herzinger nachweisen, daß von Marx an auch die deutsche Linke ein spezifisch deutsches nationales Sendungsbewußtsein besaß, das bis in die DDR einerseits, die westdeutsche Friedensbewegung andererseits tradiert wurde. Auch wenn seine These, daß die heutige Neue Rechte an einen nationalen Fundamentalismus von links nur anzuknüpfen brauchte, allzu pointiert erscheint, in einem ist Herzinger zuzustimmen: „Die Konfliktlinie in der Debatte über die Zukunft der Nation verläuft nicht zwischen Links und Rechts, sondern zwischen jenen, die den Prozeß der westlichen Integration konsequent fortsetzen wollen, und denen, die auf sein Scheitern spekulieren“ und, so läßt sich anfügen, damit wieder auf einen deutschen Sonderweg setzen.
Den Kern der Debatte um ein nationales Selbstverständnis umkreisen die sich anschließenden Beiträge von Ulrich Bielefeld und Frank-Olaf Radtke. Sie hinterfragen die These, es gebe ein quasinatürliches, vorsoziales Bedürfnis nach einer nationalen Identität, das in Deutschland nach 1945 nur unterdrückt wurde und sich jetzt wieder Bahn bricht. Damit untergraben sie eines der Hauptargumente der Neuen Rechten.
Bielefeld befragt die der These zugrunde liegende Einheitsvorstellung. Das Thema des Nationalen als Imagination von Einheit sei, so seine Ausgangsüberlegung, keineswegs naturgegeben, sondern ein klassisches Feld intellektueller Konstruktionen. Mit Johann Gottlieb Fichte, der den deutschen Nationalismus als Umformulierung der Religion entwarf, und dem Franzosen Marice Barrès stellt er zwei Baumeister solcher Konstruktionen vor. In der Anwendung seiner Ergebnisse auf die gegenwärtige Debatte läßt sein Fazit nichts zu wünschen übrig: „Nicht die sich bildenden ethnischen Gruppen sind an sich ein Problem und auch nicht ihr Zusammenleben. Der Versuch zur Herstellung von Einheit ist problematisch und muß institutionell verhindert werden. Es ist ein Phantasma, das sich nur durch Gewalt realisieren kann, nicht Realität, die sich von selbst durchsetzt.“
Ein informatives Referat über das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht, ein Interview mit dem Soziologen Lars Clausen sowie – als Neuerung im Konzept der Zeitschrift – eine Literaturbeilage vervollständigen die Ausgabe.
Dirk Knipphals
„Mittelweg 36“ ist für 18 Mark zu beziehen über: Extra-Verlag, Langgasse 24, 65183 Wiesbaden
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