Eingeschleppte Riten: Gut geseufzt ist halb gejodelt

Das hat Berlin noch gefehlt: Die Hauptstadt entdeckt das Jodeln. Im Wedding sitzt die erste Keimzelle und übt Gesänge aus der ganzen Welt.

Okay, Jodler feheln auf diesem Schweizbild, aber die Alphorn-Bläser kommen sicher auch bald ins tolerante Berlin Bild: AP

Berliner Schweizerinnen haben das Jodeln entdeckt. Es geht: "Holadri jo" oder "Dra je hul jo idiri" oder "Haudrileiho". Weil diese Urform alpiner Kommunikation keine Grenzen kennt, treffen sich Frauen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum im Atelier der Schweizer Künstlerin Lis Blunier in einer Weddinger Fabriketage zum Üben.

Bevor aus den Silbenkombinationen aber Jodler werden, müssen die Jodelwilligen die steilen Treppen der Fabrik hochsteigen. Vorbei an der Beyazid-Hinterhofmoschee. Die rhythmisch wiederkehrenden Koranrezitationen der Betenden dringen durch die Tür und mischen sich mit dem Rattern der S-Bahn, die vor dem Fenster vorbeifährt.

Nach und nach trudeln ein Dutzend gestandene Frauen im Atelier ein. Norm- und Idealmaßen setzen sie Persönlichkeit entgegen. Graue Haare lassen sie lang wachsen und rote Lippen ziehen die Aufmerksamkeit ab von den Augenringen. "Wir sind halt faltenfroh", sagt Daniela Edle von Raffay. Sie sitzt im Rollstuhl. Kinderlähmung. Sie kommt aus Bayern, und vom Jodeln ist der Familie immerhin das Jauchzen geblieben. Die von Raffays haben einen Familienjauchzer. "Dschubben" nennen sie ihn. Wenn sie sich in Menschenmengen verlieren, dschubben sie, um sich wiederzufinden.

Ingrid Hammer ist auch schon da. Die Jodellehrerin ist vor einem Vierteljahrhundert aus der Steiermark nach Berlin gekommen. Obwohl in ihrer Familie Jodler sind, hat sie das Jodeln selbst von einer mongolischen Sängerin in Berlin gelernt. Hammer interessiert sich für Gesangssysteme aus aller Welt. In ihrem Projekt "Leittöne" vermischt sie sie. Bei ihrer neuesten Performance stehen Muezzinrufe neben barocker Kirchenmusik. Die Juchzer aus den Alpen neben mehrstimmigen Liedern aus dem Balkan. Schuhplattler neben liturgischen Gesängen, Jodler neben Sufiliedern. Eines geht nahtlos ins andere über.

Die Jodelaspirantinnen haben mit Hammer eine leidenschaftliche Trainerin. Ihr Temperament hilft, jede Schüchternheit zu vertreiben. Denn wer jodeln will, darf sich nicht zieren. So grandios der schnelle Wechsel von der Brust- zur Kopfstimme, und damit das Kernstück des Jodlers, ist - bevor die Frauen es können, müssen sie die Resonanzräume im Körper vom täglichen Ballast befreien.

Die Jodelschülerinnen werden aufgefordert, sich ihre Hände feurig zu reiben, sie sich dann aufs Gesicht zu legen und dabei zu seufzen. "Seufzt über alles, was euch bedrückt. Seufzt euch aus", sagt Hammer. "Gut geseufzt ist halb gejodelt", raunt eine Frau, die sich als Thea vorstellt. Sie trägt feste Schuhe zum kurzen Rock, arbeitet als Heilpraktikerin und liebt das Jodeln, weil es die Brust von Traurigkeit befreit. "Ich spiele doch Klarinette. Manchmal konnte ich gar nicht spielen, weil ich immer weinen musste." Jodeln füllt das Leere in ihr, das sonst in Tränen aufgeht.

Im Atelier jedenfalls, in dem lauter Vogelhäuschen von der Decke hängen - Lis Bluniers neues Projekt nennt sich "Vogelhausstadt" - wird geseufzt, was das Zeug hält. Danach wird gewiehert. Dann müssen sich die Frauen das Gesicht vom Wind wegwehen lassen. Zwölf Frauen verziehen ihre Augen, ihre Münder in die geforderten Richtungen und wippen sich dabei wie eine Herde bellender Wölfinnen in eine körperliche Leichtigkeit. Sie lassen die Zungen heraushängen und seufzen. Sie wippen und stöhnen. Sie schütteln sich und lachen. "Das Jodeln löst bei den meisten Leuten ein Wohlbehagen aus", sagt Hammer. "Man kann klagen, aber es ist trotzdem schön." Sie meint das echte Jodeln, nicht den verpoppten Jodelkitsch, wie er in Volksmusiksendungen vermarktet wird.

Im Atelier steigt die Stimmung, obwohl noch gar nicht gejodelt wurde. Die Frauen necken sich mit ihren Fratzen, lassen imaginäre Bälle an sich abprallen oder sie stellen sich vor, dass eine Schnur durch ihr Brustbein geht und sie sich drum herum drehen. "Denkt euch, die Brustwarzen machen die Kreise", ruft eine Teilnehmerin. "Oh Gott, jetzt hab ich die Orientierung verloren", kreischt eine andere. So arbeiten sich die Aspirantinnen durch die Körperzonen. "Seufzen nicht vergessen!"

Anita Meier, gebürtige Schweizerin, die auch schon lange in Berlin lebt, und sich als Internetdesignerin verdingt, hat die Jodeltruppe gegründet. Mundpropaganda hat den Rest dazu getan. "Sonst wird das derzeit in Berlin vor allem Managern als Therapie zum Stressabbau geboten", sagt sie.

Meiers Initiative hat einen illustren Kreis aus Künstlerinnen, Musikerinnen, Pädagoginnen, Designerinnen zusammengeführt. Ma-Lou Bangeter, die Alphorn spielen kann, ist dabei. Christel E., eine aus Potsdam stammende Kulturarbeiterin, die das Jodeln vom schlesischen Vater lernte. Auch Isabell P. ist da. "Babys spielen mit ihrer Stimme und es klingt nach Jodeln", sagt die Hebamme. "So mit drei, vier Monaten machen die das."

In der Tat sollen Kinder keine Probleme haben, das Jodeln zu lernen. Erwachsenen soll es schwerer fallen, weil sie einen verschulten Zugang zum Singen hätten, sagt Hammer, die von den Jodelschülerinnen mittlerweile verlangt, dass sie sich aus dem Gleichgewicht bringen. Wie betrunken wackeln sie an den Vogelhäuschen vorbei. "Sind die Knie jetzt halbwegs weich?", fragt die Lehrerin.

Plötzlich singt Hammer ein A. Es wirkt wie ein Geheimzeichen. Alle stimmen ein. "Ihr müsst die Vibration spüren", ruft Hammer in die A-Flut, die das Atelier einnimmt, wie vorher das "Allah" der Muslime einen Stock tiefer. "Macht den Mund ganz auf", ruft Hammer. "Denkt euch einen Knödel im Mund." Das dutzendfache A verdichtet sich, bildet Obertöne. "Wenns vibriert, gehts einen Halbton höher."

Das A-Meer schwappt über. Es klingt zuerst wie vorbeirauschende Autos und schon bald wie Wind, der Oberleitungen zum Klingen bringt. Am Schluss endet es im Chor. "Wie fühlt es sich an?" fragt Hammer. "Eng", antwortet eine Frau.

"Wenns eng wird, mit dem Mund einen Trichter machen", sagt Hammer, geht zu ihrem Ordner und zieht die Notenblätter für einen neuen Jodler aus ihrem Hefter. "Amaibu oiei" soll gesungen werden. "Ein Jodler der Pygmäen", erklärt Hammer. Ein Kanon ist es. Er soll die Klänge des Regenwaldes imitieren. Die Jodlerinnen im Atelier schaffen drei Stimmen. Das "oi oi oi, ama ama ama, ibu ibu ibu, oiei oiei oiei" reiht sich wie Perlen aneinander und füllt den Raum wie ein rauschender Klangteppich. Ingrid Hammer gibt die Einsätze und tanzt - getrieben von imaginärer Trommelmusik - von einem Bein aufs andere dazu. "Und jetzt ein österreichischer Jodler dazu." Sie kommt mit einem neuen Zettel. "Nächstes Mal verbinden wir die und hören, wie es klingt."

"Haudrileiho" heißt der Jodler, der zu "Amaibu" passen soll. Er ist ganz langsam. "Djohi, djohi" gibt Hammer den Text vor, "ein schönes o", ruft sie in die Runde "und das i nicht rauslassen, sondern rausseufzen." Ziel des Ganzen: "Durch einen schnellen Vokalwechsel den Glottisschlag in der Stimme zu erreichen." Anders als beim klassischen Gesang soll man hören, dass die Stimme von der Brust in den Kopf wechselt. Das macht den Jodler aus.

Die Jodlerinnen stehen im Kreis und singen sich durch die drei Stimmen von "Hau dri lei ho". Zusammen funktioniert es jedoch noch nicht. "Ihr müsst ans Seufzen denken", ruft Hammer. Aber das Neue ist zu anstrengend heute.

Um die Lust nicht zu verlieren, nehmen sich die Jodlerinnen die Jodler vor, die sie in den vorherigen Stunden geübt haben: "Vater seiner", "Holadri jo idi ri hulje duli". Wenn die Vielstimmigkeit gelingt, vibrieren die Vogelhäuschen, die an Fäden von der Decke des Ateliers hängen, ganz leicht. Nach zweieinhalb Stunden lässt man sie einfach ausschwingen. "In Bayern sagt man: ,Saufts euch zamme'. Bei uns heißts: 'Seufzt euch zamme'", sagt Daniela von Raffay, als sie später im Rollstuhl auf den Aufzug wartet.

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