■ Einen Koalitionsstreit ist die Polizeireserve nicht mehr wert: Frontstadt-Pathologie
Mord, Raub, Waffenhandel und sexueller Mißbrauch – es gibt im Strafrechtskatalog wohl kein Delikt mehr, welches den Angehörigen der Freiwilligen Polizeireserve Berlins nicht vorgeworfen wird. Immer grausiger wird die Bilanz. Bei fast einem Drittel aller Feierabend-Polizisten gibt es inzwischen Hinweise auf Straftaten oder eine kriminelle Vergangenheit, obwohl noch nicht alle der rund 2.500 Mitglieder überprüft sind. Auch ohne endgültige Bilanz ist so klar, daß die in der Bundesrepublik einmalige Truppe nicht mehr zu retten ist. Verspielt ist jegliches Vertrauen. Bereits jetzt ist den Berlinern nicht mehr zuzumuten, einem bewaffneten Kerl zu begegnen, bei dem nicht klar ist, ob ein Freund und Helfer oder ein rechtsextremer Gewalttäter in der Uniform steckt. Längst geht es deshalb um die Auflösung der Polizei- Reserve und darum, wie die FPR über viele Jahre ungehindert zur Kaderschule für Kriminelle und Rechtsextreme werden konnte. Denn schließlich flog bereits 1985 ein Reservist als Waffenhändler und Gründer einer rechtsextremen Wehrsportgruppe auf, wobei kriminelle Verstrickungen in der Reserve-Armee offenbar wurden. Konsequenzen aber blieben damals aus.
Nachvollziehbar ist all dies außerhalb Berlins kaum. Drei Jahre nach dem Fall der Mauer ist deshalb der Skandal auch eine Fallstudie über die Pathologie der ewigen Frontstadt. Er legt bloß, wie der tief eingeätzte Reflex der wehrhaften Demokratie in institutionalisierten Irrsinn abrutschen konnte. Die Kreatur des Kalten Kriegs, das Sammelbecken für Ordnungs- Rambos und Waffen-Freaks, ist seit langem klinisch tot – nur der Senat wollte dies nicht wahrhaben. Statt dessen wurde das selbstgezeugte Ungeheuer unentwegt künstlich beatmet. Für ein Leben nach dem Tode hat nicht nur Anfang der achtziger Jahre der CDU-Rechtsradikale Heinrich Lummer gesorgt. Auch rechte Sozialdemokraten unterliefen 1989 durch hinhaltenden Widerstand den Auflösungsbeschluß der rot-grünen Koalition. Das starre Festhalten an der obskuren Truppe vor allem bei der CDU ist deshalb nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß die politische Prominenz der Mauerstadt und auch der Regierende Bürgermeister Diepgen selbst seit den sechziger Jahren Mitglied sind. Die SPD- Spitze hat bereits begonnen, sich vorsichtig vom Koalitionspartner CDU abzusetzen. Ihr Parteivorsitzender Ditmar Staffelt erinnerte sich öffentlich daran, daß man die Truppe bereits bei Rot-Grün für überflüssig gehalten, die SPD sich damit aber in der Großen Koalition gegen die CDU nicht durchsetzen konnte. Doch einen Koalitionsstreit ist die Freiwillige Polizei-Reserve bereits nicht mehr wert. Die Frage stellt sich nach den letzten Enthüllungen anders: Herr Diepgen, wann treten Sie aus? Gerd Nowakowski
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