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Archiv-Artikel

Eine nie gesehene Würde

Ein leidenschaftliches Manifest für das unabhängige Filmemachen: „Opening Night“, ein zentraler Film im Werk John Cassavetes’, kommt wieder ins Kino. Zugleich ist „Cassavetes über Cassavetes“ erschienen: ein lesenswertes Buch, das in die Arbeitsweise des US-amerikanischen Regisseurs einführt

„Schauspieler“, notiert Cassavetes, „müssen bereit sein, ein Risiko einzugehen“

von ANDREAS BUSCHE

Fast 15 Jahre nach dem Tod von John Cassavetes ist schwer zu sagen, was mehr überrascht: dass seine Filme bis heute um keinen Tag gealtert zu sein scheinen, vielleicht sogar aktueller sind als je zuvor; oder warum eine sorgfältige Rezeption seines Schaffens immer noch von grundlegenden Missverständnissen behindert wird. Bei europäischen Kritikern hatte Cassavetes seit seinem Regiedebüt „Shadows“ (1960) einen Stein im Brett, die amerikanischen Kritiker dagegen wurden erst in den 90ern warm mit ihm, als klar wurde, wie visionär seine Art des Filmemachens war.

Zu einem der größten Missverständnisse gehörte der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit. Der streitsüchtige Cassavetes hat ihn nie ganz ausgeräumt, obwohl er so gar nicht zu dem Bild des unermüdlichen Independentfilmers passen wollte, der zusammen mit seiner Frau Gena Rowlands einige der besten Filme über amerikanische Mittelklasse-Ehen und die Rolle der Frauen darin gedreht hat. Vor allem „Eine Frau unter Einfluss“ (1975) war der Grund, warum amerikanische Kritiker wie die nie zu besänftigende Pauline Kael sich mit diesem Vorwurf so vehement auseinander setzten. Man hätte sich damals einige klare Stellungnahmen zur Krise des amerikanischen Mittelstandes gewünscht. Doch Cassavetes hat eine solche Positionierung, die sich für das Publikum aus seiner Rolle als Regisseur zu rechtfertigen schien, kategorisch abgelehnt. In Interviews wurde er nicht müde zu betonen, dass er eine analytische Methode beim Filmemachen grundsätzlich ablehne, weil es nicht seine Aufgabe sei, dem Publikum das Denken abzunehmen. Wem es auf Unterhaltung und Problemlösungen ankomme, der sei bei ihm an der falschen Adresse.

Wenn Cassavetes einmal in Fahrt geriet, war er nicht zu bremsen. Und er kam gerne und oft in Fahrt, wenn er erst anfing, vom „Pseudo-Intellektualismus“ seiner Kollegen, den Arbeitsbedingungen in Hollywood, von engstirnigen Studiobossen und dummen amerikanischen Filmkritikern zu erzählen. – Was war nun dran am Vorwurf der Frauenfeindlichkeit Cassavetes’? War Gena Rowlands’ Mabel in „Eine Frau unter Einfluss“ tatsächlich das Opfer männlichen Chauvinismus, oder hatte sie „under the influence“ bereits andere Wege gefunden, sich in ihrer repressiven Umwelt selbst zu verwirklichen? (Im amerikanischen Englisch ist „under the influence“ eine Umschreibung dafür, dass sie einen Schuss hat, während die wörtliche deutsche Übersetzung interpretatorische Freiräume öffnet: Ist dieser „Einfluss“ nicht sogar als etwas Positives aufzufassen?) Verkörperte Peter Falk als Mabels Ehemann Nick das Paradebeispiel eines italoamerikanischen Machos, oder war er nur ein von den gesellschaftlichen Verhältnissen verunsichertes Muttersöhnchen? Zwar hatte Cassavetes eine sehr klare – wenn auch niemals konventionelle oder gar konservative – Vorstellung von den Geschlechterverhältnissen. Doch ging es ihm in seinen Filmen nie um Mann und Frau als Repräsentanten bestimmter Lebensmodelle, sondern immer nur um ganz normale Menschen in präzis festgehaltenen Lebenssituationen. Demütigungen und Selbstzweifel gehörten genauso dazu wie Momente von Geborgenheit und Glück. Cassavetes hätte den Teufel getan, beides gegeneinander auszuspielen.

„Opening Night“, der heute, 25 Jahre nach seiner Berlinale-Premiere, wieder in Berliner und im Anschluss daran in weiteren deutschen Kinos anläuft, ist vielleicht derjenige von Cassavetes’ Filmen, der dessen Begriff von „Wahrhaftigkeit“ am nächsten kommt. Zudem ist er eine interessante Ergänzung zu „Eine Frau unter Einfluss“, nicht zuletzt wegen des Respekts gegenüber den weiblichen Figuren. 15 Jahre später bekräftigte Pedro Almodóvar diesen Respekt, indem er seinen an „Opening Night“ angelehnten Film „Alles über meine Mutter“ „allen Frauen und schauspielenden Frauen“ widmete. „Opening Night“ sollte zu einer harten privaten Bewährungsprobe zwischen Cassavetes und Rowlands werden. Keiner von Cassavetes’ Filmen ist je ein Spaziergang gewesen, aber dieses Mal führte er sich, seine Familie und sein Drehteam, das wie immer umsonst arbeiten musste, tatsächlich an körperliche und finanzielle Grenzen. Wen verwundert es da, dass sich „Opening Night“ schließlich auch noch als größter Flop seiner Karriere entpuppte? Nach den katastrophalen Premieren von Los Angeles und New York brach Cassavetes endgültig mit Amerika, und sein jahrelanges Mosern steigerte sich zu wütenden Hasstiraden.

Diese Tiraden machen einen nicht unwesentlichen Teil von Ray Carneys Buch „Cassavetes über Cassavetes“ aus, einem Hybriden zwischen Autobiografie, Biografie, Werkstattgespräch und kritischer Würdigung. Carney war lange Jahre eng mit Cassavetes befreundet, was ihm eine Einsicht in dessen Denkweise gewährt, von der die Autoren früherer Standardbiografien nur träumen konnten. Er macht dabei nie den Fehler, der Plaudertasche Cassavetes auf den Leim zu gehen. Wo es geht und sein muss, greift er als allwissender Erzähler in den Wortschwall ein, kommentiert und ergänzt wilde Ausführungen über das Filmemachen und die Schauspielerführung und macht die Leser auf die eine oder andere Notlüge aufmerksam. Cassavetes ist für Carney keine sakrosankte Figur. Deswegen kann er es sich leisten, die „Arschloch“-Qualitäten in aller Ausführlichkeit bloßzustellen.

Wahrlich Großes leistet „Cassavetes über Cassavetes“ für das Verständnis von Cassavetes’ Philosophie, seiner Arbeitsweise und seiner Selbstwahrnehmung als Künstler. Auf über 650 Seiten liefert das Buch eine so profunde und erschöpfende Auseinandersetzung mit darstellerischen und ästhetischen Fragen, der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft und der Bedeutung des Mediums Film an sich, dass am Ende ein leidenschaftliches Manifest des unabhängigen Filmemachens herausgekommen ist.

„Opening Night“ liefert perfektes Anschauungsmaterial für einige grundsätzliche Ausführungen Cassavetes’ über sein Kino. Denn letztlich erzählt der Film von einer typischen Cassavetes-Arbeitssituation: Ein Schauspieler-Ensemble ist eingepfercht auf engstem Raum, die Egos und Komplexe sind exponiert, die Nerven liegen blank. Ein großer Teil des Films schildert die Proben für eine Theaterpremiere. Cassavetes spielt Maurice, einen Westentaschen-Playboy und mäßig erfolgreichen Schauspieler, Rowlands die Theaterdiva Myrtle, Ben Gazzara den Regisseur Manny und Joan Blondell die Autorin Sarah. Die Schauspieler waren so gut miteinander vertraut, dass Cassavetes intensiv mit den Figuren arbeiten konnte.

Vergleicht man Rowlands’ Figuren Mabel und Myrtle, lässt sich das Verhältnis von Cassavetes zu seinen weiblichen Figuren sehr schön verdeutlichen, und auch der Vorwurf der Misogynie wird entkräftet. Weder die ein noch die andere funktioniert einer konventionellen Filmpsychologie gemäß. Ihre Neurosen entziehen sich jeder eindeutigen Analyse, und ihre Handlungen werden nicht nachvollziehbar, was ihnen eine selten zu sehende Würde verleiht. Und beide Frauen leiden – wenn auch nicht so selbstzerstörerisch, wie es die Frauen in den Filmen Lars von Triers tun: Mabel unter dem Dilemma, den Druck der gesellschaftlichen Zwänge mit ihrer Rolle als Mutter zu vereinbaren, Myrtle unter ihrem Alter. Die von ihr im Theaterstück verkörperte Figur sieht sich mit dem gleichen Problem konfrontiert, was nur unterstreicht, wie Cassavetes die Erzählebenen verschachtelt.

Cassavetes hat sich immer mehr als Schauspieler denn als Regisseur begriffen, was verständlich wird, wenn man weiß, wie intensiv er als Regisseur mit seinen Schauspielern gearbeitet hat. Grundlegend war für ihn, den Technikapparat auf ein Minimum zu reduzieren, um den Schauspielern den Film zurückzugeben. In „Cassavetes über Cassavetes“ gibt es einige umwerfende Passagen, die zeigen, wie sehr ihm seine Figuren am Herzen lagen und wie hart er dafür kämpfte, sie nicht zu Klischees erstarren zu lassen.

Am Set redete er oft stundenlang mit den Darstellern über Facetten ihrer Figuren oder über Motive für deren Handlungen. Er gab ihnen nur eine Idee, oft nur einen Dialogsatz, mit dem sie sich auseinander zu setzen hatten. Die Schauspieler mussten lernen, sich mit ihren Figuren wohl zu fühlen – auch wenn sie dafür durch die Hölle gingen. „Was Schauspieler machen, ist okay“, schreibt Cassavetes in „Cassavetes über Cassavetes“, „weil es von Menschen kommt.“ Rowlands war mit dieser Methode oft nicht einverstanden, hat sie aber in „Eine Frau unter Einfluss“ und „Opening Night“ mit Leben gefüllt. Carney sagte sie, sie habe oft nicht gewusst, was sie eigentlich machte und warum. Aber genau diese Unsicherheit und Unberechenbarkeit wollte Cassavetes zurück ins Kino bringen. Weil sie nicht gespielt waren. „Schauspieler“, zitiert Carney ihn, „müssen bereit sein, ein Risiko einzugehen.“ Also gab er den Schauspielern nicht nur ihren Film zurück, sondern auch ihre Figuren. In „Opening Night“ sagt Myrtle, dass sie das Stück komplett auf den Kopf stellen möchte, um zu sehen, ob etwas Menschliches drinsteckt. Es ist Cassavetes, der aus ihr spricht.

Für Cassavetes war genau das der springende Punkt: mit echten Menschen zu arbeiten. Figuren wie Mable, Myrtle, Nick oder Maurice sind deswegen so immun gegen Kritik, weil Menschen vor der Kamera in einer bestimmten Sekunde ihres Lebens eine Entscheidung getroffen haben. Diese Form von Realismus ist immer die zentrale Forderung in Cassavetes’ fast konservativem Bekenntnis zu „Wahrhaftigkeit“ gewesen. Sie verschafft seinem Kino bis heute Gültigkeit.

John Cassavetes: „Cassavetes über Cassavetes“. Hrsg. Ray Carney. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2003, 660 Seiten m. Abb., 28 €