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Archiv-Artikel

„Eine neue Stufe des Schwulseins!“

Heute veröffentlicht mit „Ta-Dah“ eine der unterhaltsamsten Popgruppen unserer Zeit ihr zweites Album: ein Gespräch mit Jake Shears und Del Marquis von den Scissor Sisters über Elton John, Paul McCartney und Gore Vidal, den „großen roten Pavianhintern im Gesicht aller Sexisten“

INTERVIEW MICHAEL TSCHERNEK

taz: Ihr habt nicht nur von Elton John, sondern auch von Bono und einigen anderen etablierten Stars Zuspruch und Unterstützung bekommen. Habt ihr da manchmal das Gefühl, dass diese Leute nur auf den neuen Zug aufspringen wollen …

Del Marquis: Hat Elton nicht auch mit Anastacia gearbeitet? Auf welchen Zug ist er denn dabei aufgesprungen? (lacht)

Jake Shears: Sie sind beide voller Leidenschaft in Bezug auf ihre Musik und ihre Arbeit. Elton macht sich wirklich etwas aus Musik und der Zukunft der Musik. Jede Woche hat er einen neuen Stapel mit CDs zu Hause, die gerade veröffentlicht wurden. Er hört sich alles an. Und ganz egal, was es ist, cool oder uncool, er bildet sich seine eigene Meinung dazu. Das könnte das neue heiße Ding sein, und er sagt möglicherweise: „Das hasse ich.“ Aber es könnte auch sein, dass er es liebt. Und dann kauft er hundert weitere Exemplare des Albums, um sie an alle seine Freunde und Bekannten zu verteilen.

Einen eurer neuen Songs habt ihr „Paul McCartney“ genannt, der allerdings überhaupt nicht nach einem McCartney-Stück klingt.

Jake Shears: Er ist mir in einem Traum erschienen und hat mir diesen Song gegeben.

Wie sah er aus? Ein alter Mann oder McCartney in jungen Jahren mit Pilzkopf?

Jake Shears: Das war einfach nur McCartney. Jedenfalls habe ich zunächst einen Auftritt von ihm gesehen. Danach waren wir gemeinsam in einem Raum und haben uns über Songwriting unterhalten. Zu diesem Zeitpunkt war ich wirklich ziemlich frustriert. Wir haben schon ein paar Wochen zusammengearbeitet, sind am Keyboard verzweifelt, ohne dass irgendetwas Besonderes dabei herausgekommen wäre. Genau über dieses Problem habe ich mich mit McCartney in meinem Traum unterhalten. Und dann hat er mir die Schlüsselzeilen für den Songtext gegeben. Ich bin aufgewacht, und an diesem Tag haben wir den Song geschrieben.

Was liest du zurzeit?

Jake Shears: Ich lese die Übersetzung eines deutschen Buchs mit dem Titel „Der Schwarm“. Bis jetzt gefällt es mir, es hat leichte Pulp-Qualitäten. Aber ich liebe Horrorgeschichten, und bin froh, dass ich es gefunden habe. Wird das in Europa als Trash betrachtet?

Eigentlich nicht, es basiert offenbar auf wissenschaftlichen Untersuchungen.

Jake Shears: Stimmt, ich habe zwar gerade erst hundert Seiten gelesen, habe aber jetzt schon das Gefühl, etwas gelernt zu haben. (an Del gerichtet) Das Buch wird dir übrigens gefallen. Das liegt auf einer Linie mit dem üblichen Michael-Crichton-Wahnsinn. Da rächt sich der Ozean an der Menschheit.

Del Marquis: Hübsch!

Ist der richtig große Durchbruch für euch in den USA unmöglich, da die Homophobie in großen Teilen des Landes zu stark verankert ist?

Jake Shears: Du hättest mal die Hassbriefe sehen sollen, die wir bekommen haben, nachdem wir in „Saturday Night Life“ aufgetreten sind. Oh, mein Gott, richtig heftige Hass-Mails.

Wobei „Saturday Night Life“ sogar ein eher liberales Programm ist.

Jake Shears: Ja, aber die Leute, die sich das ansehen, sind nicht notwendigerweise liberal. (lacht) Die haben sich über die „tanzenden Schwulen“ ereifert. Es ist wirklich verrückt, wie viel Hass die Leute mit sich herumtragen.

Die Supermarktkette Wal-Mart hatte eure erste Platte gar nicht erst ins Programm genommen …

Jake Shears: Ich glaube, dass sie es am Ende doch noch gemacht haben.

Del Marquis: Was war da eigentlich noch der Streitpunkt?

Jake Shears: Sie hatten Probleme mit bestimmten Textpassagen des ersten Albums. Das war alles ziemlich banal. Sie meinten, dass es sich um ein allzu explizites Album handeln würde und wollten, dass wir es bearbeiten. Was wir natürlich niemals gemacht hätten. Das ist die absolute Doppelmoral …

Außerdem verkaufen sie doch auch Schusswaffen in ihren US-Filialen …

Jake Shears: Genau, aber du darfst in deinen Songs nicht von Titten reden.

Sogar euer Bandname steht offenbar für eine lesbische Sexposition.

Jake Shears: Ja, dafür gibt es auch noch eine anderen Begriff, „tribbing“. Dabei verschränken sich zwei Ladys mit gespreizten Beinen und reiben ihre Vaginen aneinander.

Ist es wichtig für eure Musik, dass ihr schwul seid?

Jake Shears: Nein, das denke ich nicht. Es sagt etwas über unsere Herkunft und unser Leben aus. Natürlich hatten wir unsere Boyfriends in den vergangenen Jahren. Und ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt, aber ich fühle mich zurzeit weniger schwul als jemals zuvor. Manchmal vergesse ich geradezu, dass ich schwul bin. (lacht)

Was willst du damit sagen?

Jake Shears: Wenn du jemanden liebst und mit ihm eine Beziehung hast, dann tritt der schwule Teil deiner Identität in den Hintergrund. Du bist nicht mehr auf der Suche nach Sex. Ich habe jedenfalls ganz gewiss das Gefühl, dass ich nicht mehr auf die Weise schwul bin, wie ich es früher war. (lacht)

Del Marquis: Wir stehen für eine neue Evolutionsstufe des Schwulseins.

Jake Shears: Es ist natürlich insofern wichtig, als dass es unser Leben auf eine bestimmte Art und Weise geformt hat.

Del Marquis: Ich wäre selbst dann um meine Beziehung bemüht, wenn mein Boyfriend eine Vagina hätte.

Jake Shears: Ja, du vielleicht.

Del Marquis: Ich liebe ihn eben einfach. (lacht)

Jake Shears: Oh nein, ich weiß nicht, ob ich das könnte, wenn mein Freund eine Vagina hätte. Das liegt daran, dass du ein Flittchen bist. (lacht) Entschuldige.

Del Marquis: Nein, wir sind nicht schwul. (lacht)

Jake Shears: Genau, wir sind überhaupt nicht schwul. (beide lachen)

Was zeichnet eine Gay-Ikone aus?

Del Marquis: Ein Waschbrettbauch.

Jake Shears: Oh ja, den ich rapide abgebaut habe.

Woher kommt eigentlich dieser ausgeprägte Körperkult unter Schwulen, dieser Hang dazu, den kraftvollen, muskulösen Körper herauszustellen?

Del Marquis: Ich denke, da geht es darum, eine Hypermännlichkeit zu demonstrieren …

Jake Shears: Das ist eine Reaktion auf Aids. In den 80er-Jahren war der schwule Körper ein sterbender Körper, ein ausgemergelter, mit Wunden übersäter Körper. Und dann passierte Folgendes: Neben Aidsmedikamenten verabreichten die Ärzte auch Steroide, damit die Aidspatienten auch etwas Fleisch an ihre Knochen bekamen. Und als die Medikation bei den Aidspatienten anschlug und sie weniger krank erscheinen ließ, wurden auch die Körper immer umfangreicher. Und das betraf viele Leute, schließlich haben viele Leute Aids. Die kränklichen Körper wurden immer kräftiger. Und plötzlich wurde daraus etwas Wünschenswertes. Selbst Leute, die weder HIV noch Aids hatten, begannen sich Steroide zu besorgen. Das Pendel schlug in die entgegengesetzte Richtung …

Was auch den Druck auf den heterosexuellen Mann erhöhte.

Jake Shears: Absolut. Neben dem Konsum von Steroiden hat natürlich auch die technologische Entwicklung, haben Computer und die Werbung die vorherrschende Idealvorstellung vom Körperbau vorangetrieben.

Del Marquis: Das beeinflusst uns alle. Jake und ich gehen beispielsweise regelmäßig ins Fitnessstudio. Und ich weiß nicht, ob wir das auch tun würden, wenn wir es nicht als einen Teil der schwulen Kultur verstehen würden.

Gibt es für euch eine Gay-Ikone?

Del Marquis: Fred Schneider von den B-52’s.

Jake Shears: Jane Fonda, Dolly Parton, Gore Vidal, der verdammte Gore Vidal.

Del Marquis: Oh ja, Gore Vidal ist wie ein großer roter Pavianhintern im Gesicht aller Sexisten. (lacht)

Ihr greift Elemente der Discomusik wieder auf, und Disco war zumindest anfangs eine schwule Domäne.

Jake Shears: Ja, da gibt es Anknüpfungspunkte. Aber unsere Texte sind so gefasst, dass sich nicht nur Schwule damit identifizieren können. Ich bemühe mich Texte zu schreiben, mit denen sowohl meine Mom etwas anfangen kann, als auch irgendeine Queen unten an den Piers. (lacht)

Del Marquis: Die Gitarre ist nicht besonders schwul, und das Schlagzeug ebenso wenig. Am Ende bleibt da nur Jake.

Jake Shears: Ich weiß. (seufzt)