piwik no script img

Eine merkwürdige Allianz-betr.: "Wer will nach Europa?", Kommentar von Jürgen Gottschlich, taz vom 3.12.92

Betr.: „Wer will nach Europa?“, Kommentar von Jürgen Gottschlich, taz vom 3.12.92

[...] „National=reaktionär“ und „supranational=progressiv“ – diese Gleichung, die in bestimmten Zusammenhängen richtig ist, wird, wenn man sich die EG-Praxis anschaut, gnadenlos von den Eurotechnokraten verfälscht und mißbraucht. [...]

Nun sieht es in der EG so aus, daß alles in einer Weise nivelliert wird, daß von einer „Harmonisierung“ keine Rede sein kann. Es wird allerorten gleichgeschaltet. Man einigt sich auf den Nenner, der unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der beste ist. Nationale oder regionale Errungenschaften werden negiert. [...]

So kann man Nationalismus und Faschismus nicht bekämpfen. „Europa“ ist tatsächlich „keine Immunisierung gegen Rassismus und Großmacht-Ambitionen“, wie Jürgen Gottschlich schreibt. Im Gegenteil: Wie eine Bombe wird der Nationalismus hochgehen, wenn die EG so weitermacht! Es wird sich in Zukunft als fataler Irrtum herausstellen, zu glauben, man könne den Nationalismus bekämpfen, indem man die Leute Stück für Stück ihrer Identität beraubt. Die Erfahrung im Ostblock hat doch bitte schön gezeigt, was für 'ne Scheiße hochkocht, wenn der Deckel der Generalisierung gelüftet wird!

Und was die Großmacht-Ambitionen anbetrifft, so ist die EG die Großmacht, die in Zukunft globale Bedeutung bekommen könnte. Kein einzelnes europäisches Land hätte die Kraft dazu, wie der Autor befürchtet. Vom Militärischen reden wir gar nicht. Die Zeiten sind vorbei. [...]

„Nationale Souveränitätsverzichte zugunsten Europas“ – das hätte außerdem die Nebenwirkung, daß der einzelne Bürger noch weniger die Möglichkeit hätte, auf die Politik Einfluß zu nehmen als ohnehin schon. Von der Kreuzchen-Demokratie wegkommen – das wäre der Schritt in die Zukunft. Der EG-Zentralismus ist zutiefst demokratiefeindlich. Transparenz, Mitbestimmung, direkte Demokratie? Fehlanzeige. Der ganze Stil, das Tempo, in dem Maastricht installiert wurde, ist bezeichnend für das, was auf uns zukommt.

Die Entscheidung des Bundestages wird sich noch als verhängnisvoll erweisen. Hoffen wir also auf die Dänen und Briten. Jedenfalls kann ich nicht verstehen, wie ein linker Autor in einer linken Zeitung die Dinge so – pardon – verschroben angeht. „Dank Kohl“ heißt es da ohne Ironie. Eine merkwürdige Allianz. David Leuckert, Sindelfingen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen