piwik no script img

Eine kollaborationsfreundliche Atmosphäre

■ Im Barbie–Prozeß wird die Deportation von 44 jüdischen Kindern verhandelt / Lucien Bourdon, der die Kinder an die Nazis verriet und als Zeuge zu Kollaborationsvorwürfen befragt werden sollte, ist angeblich unauffindbar / Falsche Ermittlungsfährte durch deutsche Angaben

Aus Lyon Lothar Baier

In der vierten Verhandlungswoche des Schwurgerichtsprozesses gegen Klaus Barbie werden die Zeugenvernehmungen zu dem zentralen Anklagepunkt, der Razzia auf das jüdische Kinderheim in Izieu, fortgesetzt. Die Aktion ist immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Die Zahl der überlebenden Augenzeugen ist gering, und Erinnerungen haben sich nach 43 Jahren verwischt. In Lyon wird allerdings immer lauter die Frage gestellt, ob es nicht auch an der mangelnden Sorgfalt der Ermittlungen liegt, wenn Begleitumstände der Razzia vom 6. April 1944 im dunkel bleiben. Unbestritten ist, daß die von Klaus Barbie kommandierte Gestapo in Lyon nicht aufgrund eigener Erkundungen auf das jüdischen Kinderheim aufmerksam wurde, sondern von einem einheimischen Denunzianten an den Ort geführt worden war. Der Name des Denunzianten, Lucien Bourdon, ist seit langem bekannt. Dieser Mann war als Zeuge benannt worden, konnte aber, wie es im Gericht hieß, wegen wechselnder Adressen nicht rechtzeitig geladen werden. Der Journalist Antoine Spire, Autor einer Radioreportage über die Affaire Izieu, hat nun bekanntgegeben, daß er das letzte Mal erst vor wenigen Tagen Kontakt mit dem offiziell unauffindbaren Hauptzeugen aufgenommen hat. Hat das Gericht den Denunzianten von 1944 nicht finden wollen? Nach Angaben von Antoine Spire hat Bourdon in enger Zusammenarbeit mit einem Kollaborateur namens Antoine Wucher gehandelt. Dessen damals achtjähriger Sohn Rene - der in Lyon als Zeuge auftrat, aber seine inhaltsleere Aussage in einem Satz hinter sich brachte - war eine Woche vor der Razzia dem jüdischen Kinderheim übergeben worden, mit der Begründung, seine Mutter sei erkrankt. Die Begründung war erfunden. Es besteht der Verdacht, daß das Kind als Lockvogel in das Heim geführt wurde. Die merkwürdigen Umstände, unter denen der mit den jüdischen Kindern abtransportierte Junge bei einem Halt der Fahrzeuge in der Nähe von Izieu freigelassen wurde, sprechen für ein abgekartetes Spiel. Laut Antoine Spire gibt es in Australien eine Person, von der entscheidende Aufschlüsse zu erwarten sind: Die damalige Geliebte des kurz nach der Razzia von Izieu von der Resistance erschossenen Kollaborateurs Wucher. Doch in den Ermittlungen taucht sie nicht auf. Vor Gericht ist auch unerwähnt geblieben, daß in dem kleinen Dorf Izieu eine kollaborationsfreundliche Atmospähre herrschte. Der nach Kriegsende wiedergewählte Bürgermeister Henri Tissot hatte das heimlich eingerichtete Kinderheim in offiziellen Schreiben als „jüdisch“ gebrandmarkt. Nach der Befreiung sämtliche Gemeinden aufgefordert, ein Inventar der Deportationen unter der deutschen Okkupation aufzustellen, unterließ es die Gemeinde Izieu, die Deportation der 44 Kinder zu melden. Mit der Republik stand man in dieser abgelegenen Gegend des Departements Ain so sehr auf Kriegsfuß, daß man sich bis Ende der siebziger Jahre weigerte, den 14. Juli zu feiern. Es erscheint vor allem als schwerwiegendes Versäumnis, daß kein einziger der deutschen Augenzeugen der Razzia vor Gericht zitiert worden ist. Da die Gestapo über keinen eigenen Fuhrpark verfügte, hatte sie eine in der Nähe stationierte Wehrmachtseinheit beauftragt, für den Abtransport der Kinder zu sorgen. Die Soldaten dieser als Flakbataillon 958 identifizierten Einheit sind in mehreren Zeugenaussagen vor Gericht als wenig nazifreundlich charakterisiert worden. Die ehemaligen Flak–Soldaten selbst kommen in Lyon nicht zu Wort, obwohl von ihnen am ehesten Auskunft darüber zu erwarten wäre, welcher Gestapo–Offizier die Aktion vor Ort leitete. Es sieht so aus, als habe sich das Gericht in Lyon allzu sehr auf die exklusive Beweiskraft des Telex–Papiers verlassen, auf dem Klaus Barbies theoretische Verantwortung für die Razzia dokumentiert ist. Für solche Versäumnisse kann man die Justiz in Lyon nicht allein verantwortlich machen. Der Fall Barbie beschäftigt seit mehr als zwanzig Jahren auch die bundesdeutsche Justiz. Die ermittelnde Münchener Staatsanwaltschaft hat ihre Akten den französischen Behörden zur Verfügung gestellt. Darin wird zwar eine an der Aktion von Izieu beteiligte Wehrmachtseinheit erwähnt, aber unter einer verkehrten Bezeichnung. Kein Wunder, daß die Ermittler in Lyon auf dieser falschen Fährte nicht fündig wurden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen