: Eine furchtbar schöne Geschichte
■ Unverbindlicher Small talk, Palaver im Konjunktiv und ein verspäteter Kommunist: Im Roman Mário de Carvalhos' heißt die Lösung aller Probleme „Wir sollten mal drüber reden“
Joel Strosse Neves lebt in Lissabon und wird von einer typischen Midlife-crisis eingeholt. Mit seiner Frau hat er sich nur noch wenig zu sagen. Der Sohn, der einmal alles besser machen sollte, sitzt im Knast, und er selbst wird an seinem Arbeitsplatz von einem Tag zum anderen degradiert. In dieser Situation trifft er Jorge Antonio Carreira Maros, einen alten Bekannten aus längst vergangenen Tagen. Jorge war damals und ist immer noch Mitglied der Kommunistischen Partei.
Joel erinnert sich an seine Jugend unter der Salazar-Diktatur, an die Zeiten der Nelkenrevolution, der Verstaatlichung der Industrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft. Mit über 20jähriger Verspätung beschließt er, in die KP einzutreten. In Erinnerungen schwelgen und der verkorksten Existenz einen neuen Sinn geben und alle Probleme auf einen Schlag lösen – das wäre eine furchtbar schöne Geschichte geworden.
So einfach geht es jedoch nicht. Bei Joel Strosse Neves stimmen nicht einmal die Erinnerungen. Die Gegenwart löst sich in Slapsticks, groteske Mißverständnisse und beliebige Geschäftigkeit auf. Eine Zukunft kann er nicht gewinnen. Mit verbohrtem Ernst betreibt er zwar eine politische Entscheidung, die früher vielleicht existentiell gewesen wäre, heute aber beinahe zum Happening verkommt. So wundert es kaum, daß Joel sein Vorhaben nicht verwirklicht, sondern sich heillos verstrickt. Und von der eisernen Partei-Senhora Vera Quitério hört er immer nur einen Spruch: „Wir sollten mal drüber reden.“
Als Romantitel steht dieser Satz für die allgegenwärtige Haltung des unverbindlichen Small talks und Palavers im Konjunktiv, in dem Inhalte und Bedeutungen verschwinden. Mário de Carvalho, 1944 in Portugal geboren, stellt seinem Buch augenzwinkernd eine Warnung voran. Auf „ärgerliche Einzelheiten“, „Karikaturen“ und „Launen“ werden die Leser schonend vorbereitet, auf „Derivationen“ und „Anakoluthe“. In der Tat verblüfft der hierzulande kaum bekannte Carvalho vor allem mit seiner unkonventionellen Mischung aus scheinbar Disparatem: Er erinnert an die große portugiesische (und auch lateinamerikanische) Erzähltradition, die Realismus und Magie so großartig verbindet, die souverän mit unterschiedlichen stilistischen Mitteln jongliert, und konfrontiert sie mit der Realität eines Landes, dessen jüngere Geschichte von dramatischen Brüchen gekennzeichnet ist.
Was ist aus diesem Portugal geworden, dessen marode Diktatur 1974 von einigermaßen realistisch denkenden Militärs abgelöst wurde, die dann aber selbst – bürgerlich-konservativ – von einer sozialistischen Bewegung überrollt wurden? Die Hoffnungen von einst sind verflogen. Álvaro Cunhal, dem Führer der KP, sind zwar auch in allerneuesten Portugal-Reiseführern einzelne Kapitel gewidmet worden, weil er eine Institution ist und zum Land gehört wie der Vinho Verde, doch was ist geblieben von der Revolution, als ein großes Durcheinander – zumindest in diesem Roman?
Joel lügt sich eine Vergangenheit zurecht, um eine Zukunft auf falschen Mythen zu bauen. Jorge, der tatsächlich einmal Revolutionär war, hat sich mit der Gesellschaft und der Partei verändert und ist zum illusionslosen Pragmatiker geworden. Und dann gibt es noch die zauberhafte Eduarda Galvao, eine anpassungsfähige Journalistin. Sie schwimmt auf jeder Welle mit, reimt sich die absurdesten Stories zusammen, oder besser: läßt sie sich zusammenreimen – ausgerechnet von dem Kommunisten Jorge, der sie liebt und sich von ihr, die gute Laune um jeden Preis verbreitet, drängen läßt. Die drei Figuren brauchen einander, und haben doch nichts wirklich gemeinsam. Und darüber schwebt Genossin Vera Quitério: „Wir sollten mal drüber reden.“
Amüsant und kurios führt Carvalho auch in der literarischen Form vor Augen, daß das Ganze ein Konstrukt ist, daß die Wirklichkeit erst wirklich ist, wenn sie zum Text geworden ist. So kommentiert er den Schreibprozeß und fügt immer wieder Hinweise ein, mit welchen Formen und Versatzstücken er spielt. Vielleicht macht diese Gratwanderung, die bitterernste Suche nach dem Sinn des Lebens in der literarischen Gestaltung eines heiter-unverbindlichen Spiels den ungewöhnlichen Reiz dieses Romans aus. Detlef Grumbach
Mário de Carvalho: „Wir sollten mal drüber reden“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Ralph Roger Glöckler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1997, 275 Seiten, 36 DM
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