Eine bemerkenswerte Frau: Eine richtige Weihnachtsgeschichte
Der Weihnachtsapfel kann nur ein wirklich perfekter Apfel sein und ihn zu suchen, macht viel Mühe. Aber vielleicht ist noch wichtiger, mal drüber gesprochen zu haben.
Eine richtige Weihnachtsgeschichte hat eine Moral und erinnert uns daran, dass wir nackte, arme Menschlein sind, wie das kleine Jesulein, und dass wir die anderen nackten, armen Menschlein unterstützen und ihnen irgendwas geben, Sachen und Mitleid.
Es fängt so an, dass Gabriela am Weihnachtsmorgen zum Einkaufen ins Wandsbek Quarree geht, und das ist erst mal keine Freude. Sie hat ihren Rucksack auf, ihre Tasche in der Hand, und ihr Sohn läuft neben ihr, ihr sechzehnjähriger Sohn. Es ist warm geworden, vierzehn Grad ungefähr, und weil sich die Leute nicht umstellen können und immer noch glauben, dass sie im Winter sind, tragen sie alle dicke Mäntel und Mützen. Gabriela trägt auch einen grauen Wintermantel und schwitzt unter den Armen, auch am Rücken, sie schwitzt.
Die Straßen sind voller Verkehr, aber das Licht ist schön. Der Himmel ist wattig und grau und leuchtet, wie von innen, als wäre er mit Leuchtfarbe angemalt. Es ist ein graues Leuchten, und das ist das einzig Weihnachtliche an Weihnachten. Die Geschäfte sind bis an den Rand voll mit Menschen, sie sind so voll Musik und Plastiktanne, so voll Schweiß, und die Gesichter der Verkäuferinnen sind so weiß und müde, diese armen Verkäuferinnen, denkt Gabriela, und sagt, was sie alles braucht.
Suppengemüse, zwanzig Mandarinen. Ananas. Sie sagte es am Gemüsestand, wo sie einem alles abwiegen und wo sie alles haben. Alles haben sie da. Es ist dieser Gemüsestand, ein vollständiges Abbild unseres Planeten, was dieser Planet auf seinen Feldern hat, das gibt es dort. Es ist dieser Gemüsestand auch in Wirklichkeit viel größer, als es scheint, sie können ihn öffnen, sie können kleine Treppen hinuntersteigen und aus tiefen Höhlen winzige Bananen heraufholen, Gurken vom Nordpol, Kräuter aus Afghanistan, kein Problem. Wird alles gewogen und abgepackt. Eine Frau steht neben ihr, die verlangt einen Apfel. Sie nimmt diesen Apfel entgegen, sie betrachtet ihn.
„Nein, danke“, sagt die Frau. „Ich möchte ihn doch lieber nicht.“
Gabriela wendet sich dieser Frau zu, ihr Sohn ebenso, der verstohlen neben ihr steht, er steht immer so neben oder hinter ihr, verstohlen. Es liegt an seinem Alter. Er kann überhaupt keine Dinge anders tun als verstohlen.
„Möchten Sie denn einen anderen?“, fragt der Gemüsemann.
„Vielleicht“, sagt die Frau.
ist taz-Kolumnistin, Schriftstellerin und Mitglied der Hamburger Lesebühne „Liebe für alle“. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ erschien 2017 bei Rowohlt.
Er gibt ihr einen anderen, sie betrachtet ihn, dreht ihn, schüttelt traurig den Kopf. „Hätten Sie noch einen?“
„Jetzt ist aber mal genug“, sagt der Gemüsehändler nach fünf Äpfeln.
Und aus diesem Grund starren jetzt alle diese Frau an, heimlich, verstohlen, wie Gabrielas Sohn. Es ist eine Frau mit einer großen gelben Mütze auf dem Kopf, zottiges, gelbes Kunstfell, sie ist ungefähr siebenundsiebzig Jahre alt. Sie dreht sich um und geht.
Es freut die Leute, wenn sie sich in irgendwas einig sind
lebt als Illustratorin im Hamburger Schanzenviertel, ihre Zeichnungen und Texte erscheinen unter anderem in der taz.
Der Gemüsemann zuckt mit den Schultern. Die Leute sehen sich an. Es freut die Leute ja immer, wenn sie sich in irgendwas einig sind.
Der Gemüsemann bringt den letzten Apfel wieder weg. Er legt ihn vorsichtig zu den anderen Äpfeln, wie ein Baby bettet er ihn, damit er keine Druckstellen kriegt.
„Was war das denn?“, sagt Gabrielas Sohn.
Gabriela zuckt mit den Schultern. Dann treffen sie die Frau bei der Bahn. Sie steht plötzlich neben ihnen, als gehörte sie heute zu ihnen.
„Warum haben Sie die Äpfel alle nicht gekauft?“, fragt Carl, so heißt Gabrielas Sohn.
„Ich weiß, es sieht komisch aus“, sagt die Frau.
„Aber?“, fragt Carl.
„Es ist nicht der Weihnachtsapfel gewesen“, sagt die Frau.
Sie steigen zusammen mit der Frau in die U-Bahn. Sie fahren eine Station. Es sind viele Leute in der U-Bahn, es ist voll. Die Leute schwitzen und reißen sich ihre Mützen vom Kopf. Sie haben alle viel eingekauft, denn es gibt ja drei Tage nichts einzukaufen. Die Frau mit der gelben Mütze reißt ihre Mütze auch vom Kopf. Sie hat dünnes, bläulich gelocktes Haar, das verschwitzt an ihrem Kopf anklebt. Sie versucht mit einer Hand, es ein wenig anzuheben. Aber es hat keinen Sinn.
Als sie aussteigen, auch die Frau steigt aus, ist es ein wenig dämmrig geworden. Es ist erst Mittag, aber die Dämmerung hat sich schon in den Tag geworfen. Sie ist ein gern gesehener Gast an Weihnachten. Sie kündigt die Heilige Nacht an.
Gabriela kann nicht an sich halten, sie fragt die Frau, „Ein Weihnachtsapfel, sagen Sie?“
Die Frau hat sich ihre Mütze wieder aufgesetzt, die Mütze sieht aus wie eine gelbe Flamme.
„Es ist unsere Tradition“, sagt die Frau.
„Aber jetzt haben Sie keinen“, sagt Carl.
Die Frau schüttelt den Kopf. Sie gehen zusammen den Weg von der Bahn. Die Frau immer dabei. Das Haus vom Sportverein steht still und dunkel, keiner treibt heute Sport. Auch beim Physiotherapeuten ist das Licht aus. Aber in den Wohnhäusern tanzen die kleinen, blinkenden Weihnachtsmänner und flimmern festlich die Fernseher. Es ist warm und diesig, und in der Dämmerung huschen die Leute mit ihren vollen Taschen herum und freuen sich auf einen langen Abend mit dem festlichen Fernsehprogramm und dem besonderen Essen.
„Hier möchte ich mich verabschieden“, sagt die Frau an einer Straßenecke.
„Wir haben auch Äpfel gekauft“, sagt Carl. „Vielleicht haben wir den Weihnachtsapfel.“ Er reißt seinen Schulrucksack auf, der voller Äpfel ist. Er ist ein großer Apfelesser. Äpfel sind fast das einzige Obst, das er isst. Er isst sie hintereinander weg, und in seinem Zimmer liegen Schüsseln voller Griebsche.
Die Frau starrt ihn an. Sie hat ein kantiges Gesicht, eine lange Nase und einen ganz kleinen Mund. Sie sieht ein wenig aus, wie eine Handpuppe, eine charaktervolle Handpuppe, sie sieht so aus, als sei ihr Gesicht überstark modelliert und bunt angemalt. Tränen stehen in ihren Augen. Sie sind so plötzlich herausgeschossen, wie aus einer Wasserpistole.
„Ich kann ja nicht…“, sagt sie. „Drin rumwühlen“, sagt sie.
„Aber“, sagt Carl, „Sie können mit hochkommen. Dann packen wir die Äpfel auf den Tisch und dann können sie sehen, ob er dabei ist.“
„Ja, das können Sie wirklich machen“, sagt Gabriela. Sie liebt ihren Sohn über alles. Er ist so ein prächtiger Junge. Er kifft leider, aber er isst ja auch sehr viele Äpfel, und das gleicht das Ungesunde am Rauchen wieder aus.
Sie nehmen die Frau mit, und im Treppenhaus sagt sie, dass sie Elisabeth-Maria Berlhoff heißt.
„Und was ist es mit dem Weihnachtsapfel, was ist das für eine Tradition?“, fragt Gabriela Elisabeth-Maria.
Da sind sie schon in ihre Stube getreten, wo der Weihnachtsbaum geschmückt ist. Es ist ein kleines, kahles Ding, Carl hat ihn geholt. Sie haben so viel rangehängt, wie geht. An ihrem kleinen, kahlen Baum hängt so viel Zeug wie andere nicht an einen großen angebracht hätten. Es ist ein Baum, von dem man vorher sagt, „Gott, den will doch keiner“. Aber nachher sagt man, „Man, das ist aber ein Teufelsbaum!“.
Carl holt die Äpfel aus seinem Rucksack. Er legt sie vorsichtig alle auf den Esstisch. Einen nach dem anderen. Zwei holt er noch vom Obstteller. Die legt er dazu.
Elisabeth-Marie zieht wieder ihre Mütze von ihren feinen, bläulichen Haaren.
„Wie kriegen sie ihr Haar so blau?“, sagt Gabriela.
„Dazu später“, sagt Elisabeth-Maria. Sie betrachtet sorgfältig jeden Apfel. Sie sagt, „Man müsste sie einzeln sehen, getrennt von den anderen.“
„Tja, das ist aber wirklich…“, sagt Gabriela. Die Frau geht ihr langsam auf die Nerven. Obwohl sie auch etwas an sich hat. Ihre Puppenhaftigkeit. Sie ist wie eine Figur vom Weihnachtsteller, mit ihren roten Bäckchen.
„Wir hatten immer einen Weihnachtsapfel“, sagt Elisabeth-Maria. „Meine Mutter hatte einen Weihnachtsapfel, meine Großmutter, meine Urgroßmutter, es ist eine Tradition. Es kommt von ganz früher her. Es ist sehr wichtig.“
„Aber was machen Sie mit dem Apfel?“, fragt Carl.
„Wir legen ihn auf einen Teller.
„Wird er gegessen?“
Der Apfel darf in Ruhe verschrumpeln
„Er wird nicht gegessen. Er darf in Ruhe verschrumpeln.“
„Und wie wird er präsentiert?“, fragt Gabriela. Sie sieht, wie Elisabeth-Maria jeden einzelnen Apfel sorgfältig betrachtet.
„Er kommt auf einen Teller, der auf einem Fuß steht. Es ist ein vererbter Teller. Alt. Sehr alt.“
„Und warum nehmen Sie nicht irgendeinen Apfel? Ich meine, wir nehmen doch auch irgendeinen Baum. Jedes Jahr haben wir einen anderen Baum. Manchmal haben wir einen großen, manchmal einen kleinen, öfter mal einen kahlen, oder auch einen schiefen. In der Abwechslung liegt ja die Freude. Es wäre doch sonst alles immer gleich. Immer der gleiche Baum. Da könnte man sich ja gleich einen Plastikbaum kaufen. Da hätte man dann jedes Jahr den gleichen Baum. Aber wer will das?“
„Einen Baum haben wir nicht“, sagt Elisabeth-Maria.
„Nicht?“
„Ist es so, dass Ihnen der richtige Apfel sofort ins Auge springt? Mir springt der richtige Baum auch ins Auge“, sagt Carl. „Der hat so ’nen Zauberschein um sich rum. Ich seh’ den, hier, geil, das isser. So knallt der in mich rein. Ich finde den einfach. Ich nehm’ ja nicht jeden. Früher wollte ich immer große. Aber jetzt nehm’ ich lieber kleine, mickrige oder krumme oder kahle. Ich hab’ ’ne andere Sichtweise entwickelt. Ich möchte mehr so in diese Richtung gehen.“
„In die kleine, mickrige oder krumme und kahle Richtung?“, fragt Gabriela. Sie ist etwas misstrauisch, aber sie findet auch, dass das Gespräch sich in eine schöne, philosophische Richtung entwickelt.
Antikapitalistisch, krummen Bäumen eine Chance zu geben
„Ja, das ist antikapitalistisch. Dass man diesen Bäumen auch eine Chance gibt. Dass man sie ehrt.“
„Das finde ich gut“, sagt die Frau Elisabeth-Maria. „Mit dem Apfel ist es allerdings anders. Er ist perfekt.“
„Finde ich nicht so gut“, sagt Carl.
Die Frau nickt.
„Wissen Sie, dass die Äpfel im Supermarkt fast alle gleich aussehen? Ich nehm’ immer welche, die verschieden aussehen, ganz natürliche, kleine unbehandelte Äpfel, Bioäpfel.“
Gabriela drückt ihren Jungen an sich. Sie weint fast vor Stolz.
Elisabeth-Maria nickt. Sie setzt sich.
„So gesehen“, sagt sie.
„Sie sollten Ihre Einstellung ändern“, sagt Gabriela. „Das macht es viel einfacher. Einfach mal sich von diesem Perfektionsdruck befreien.“
„Du vergisst, dass sie nur einen Apfel haben“, sagt Carl. „Keinen Baum. Das ist schon, auch wenn sie sehr auf einen perfekten Apfel aus sind, also es ist schon sehr antikapitalistisch.“
„Wie ist es mit Geschenken?“, fragt er Elisabeth-Maria.
„Wir schenken uns Obst und Nüsse“, sagt Elisabeth-Maria.
„Obst und Nüsse!“, schreit Carl. „Das ist geil.“
„Ich glaube nicht, dass du das geil fändest“, sagt Gabriela. Er bekommt ein Ipad. Er weiß es noch nicht. Aber er braucht eines.
„Wir sind zu dritt“, sagt Elisabeth-Maria. „Meine Schwester und meine Mutter. Wir schenken uns Obst und Nüsse. Das ist so, bei uns.“
„Sind Sie arm?“, fragt Carl.
Gabriela macht sich Sorgen, ob die Frau gekränkt ist.
„Ich weiß nicht“, sagt die Frau, „Ich glaube nicht. Wir könnten uns was anderes schenken. Einen Pullover oder eine Gitarre. Ich hätte gerne eine Gitarre.“
„Aber können sie sich auch selber kaufen“, sagt Carl.
Sie nickt. Sie steht auf.
„Keiner dabei?“, sagt Carl.
Sie schüttelt den Kopf.
„Sie sind halt natürlich, natürliche Äpfel“, sagt Carl stolz. „Ich habe sie extra so ausgesucht.“
Als die Frau weg ist, schmücken sie den Weihnachtsbaum.
„Komische Tradition, richtig komisch“, sagt Carl.
„Es kommt darauf an, wie man es betrachtet“, sagt Gabriela. „Ein Baum ist auch komisch, wenn man darüber nachdenkt. Also einen Baum abzusägen und ihn sich in die Wohnung zu stellen. Wenn man drüber nachdenkt… ist es nicht komischer als ein Apfel?“
„Ich weiß nicht. Schon. Aber einen Apfel… Man kann überhaupt nichts mit ihm machen. Man kann ihn nicht schmücken. Und… Äpfel liegen doch immer rum. Bei mir liegen immer Äpfel rum. Das ist doch echt abgefahren, wegen einem Apfel, also.... Wo soll die Tradition denn herkommen? Ich glaub’ das nicht. Die machen das doch gar nicht wirklich. Die haben doch keinen Apfel statt ’nem Baum.“
Gabriela sieht ihn ernsthaft an. Bedeutet ihm das denn so viel, dass er sich aufregt? In seinem Alter? Oder hat er noch nicht begriffen, lernt er jetzt erst, wie Menschen sein können, wie unverständlich, wie anders?
Die Alster ist eine riesige Pfütze
Dann treffen sie sie am nächsten Tag auf der Brücke Richardstraße. Sie sind unterwegs mit Gabrielas neuem Freund Bert und Ellie, ihrer Schwester, und ihrer beider Vater Alfred und Ellies Tochter Regine und deren Freundin Birgit. Sie vertreten sich die Beine nach dem Essen, sie wollen zur Alsterperle, einen Glühwein trinken und auf die traurige Alster schauen. Sie leuchtet immer so schön unter dem schweren, grauen Himmel, sie leuchtet wie aus sich heraus und sie glänzt von den ganzen Lichtern um sich herum, und sie hat ja auch keine wirkliche Tiefe. Sie ist nur eine riesige Pfütze, auf deren Grund lauter Müll liegt.
Auf der Brücke steht Elisabeth-Maria mit einem dieser zweifarbigen Einkaufswägelchen auf zwei Rädern, in dem was Dickes steckt. Sie trägt wieder ihre zottelige gelbe Mütze und sie hält sich mit einer Hand am Geländer fest, während sie versonnen auf den Kanal schaut.
„Frohe Weihnachten!“, ruft Gabriela. Sie hat vom Wein ein frohes Gemüt. Und auch sonst. Sie mag Familie und Gruppen, die spazieren gehen wie ein Schwarm Enten oder eine Horde Rehe. Besonders an kalten, feuchten Tagen wie diesen, da spürt man doch die innere Wärme besonders.
„Haben Sie den Apfel gefunden?“, fragt Carl.
Die Frau starrt sie an. Sie kommt Gabriela verloren vor. Sie ist ja ihnen allen als Gruppe gegenüber auch im Nachteil.
„Welchen Apfel?“, fragt Elisabeth-Maria.
„Den Weihnachtsapfel“, sagt Carl.
„Ich verstehe nicht“, sagt Elisabeth-Maria. „Kenne ich Sie?“
Gabriela sieht Carl an. Sie seufzt.
„Sie waren doch gestern bei uns“, sagt Carl, in seiner unbarmherzig jugendlichen Aufrichtigkeit. „Wegen dem Weihnachtsapfel.“
„Wegen des Weihnachtsapfels!“, sagt Regine.
„Wegen dem Weihnachtsapfel waren Sie bei uns doch in der Wohnung drin“, sagt Carl.
„Lern Deutsch“, sagt Regine.
„Alfred“, sagt Alfred und reicht Elisabeth-Maria die Hand.
„Das ist ja mal eine Überraschung!“, sagt Elisabeth-Maria. „Dass ich dich hier treffe!“
„Kennt ihr euch?“, fragt Gabriela.
„Ich bin der Vater“, sagt Alfred.
„Angenehm“, sagt Elisabeth-Maria und reicht jetzt allen freundlich die Hand.
„Wir wollen eben zur Alsterperle einen Glühwein trinken“, sagt Alfred. „Warum kommen Sie nicht mit?“
„Aber gerne doch“, sagt Elisabeth-Maria.
„Was haben Sie denn mit dem Wagen vor?“, fragt Carl.
„Da ist ja mein Joseph drin“, sagt Elisabeth-Maria. Sie öffnet die Klappe und sie schieben alle ihre Köpfe über die Öffnung. Im Dunkeln hockt ein dicker, alter Hund, der böse knurrt.
„Er mag es nicht, wenn ihn Leute angucken.“
„Kann er nicht mehr laufen?“, fragt Carl.
„Er kann schon“, sagt Elisabeth-Maria, „aber er möchte nicht.“
Elisabeth-Maria hat sich bei ihnen eingereiht. In ihrer warmen Gruppe. Sie schnattert munter als wäre es ihre Familie. Sie erzählt von ihrer Heiligen Nacht, in der sie immer eine Weihnachtsnuss hätten. Das wäre nun mal die Tradition.
„Eine Weihnachtsnuss?“ Gabriela ist ein bisschen aufgebracht. „Sie sprachen doch von einem Weihnachtsapfel. Was denn nun?“
„Es geht ja beides“, sagt Carl.
Er legt ihr den Arm über die Schulter. Er ist so groß und so dünn. Er ist wie ein großer dünner Baum. So heiter und so ehrlich. Sind Bäume ehrlich? Bäume sind unbedingt ehrlich. Sie können ja nicht lügen, oder was?
Eine Weihnachtsnuss … oder?
„Wir haben eine Weihnachtsnuss“, sagt Elisabeth-Maria. „Und dazu haben wir noch … lassen Sie mich nachdenken.“ Sie bleibt stehen, und sobald sie stehen bleibt, knurrt der Hund. „Wir haben, glaube ich, auch einen Weihnachtsapfel. Einen Weihnachtsapfel und eine Weihnachtsnuss.“
„Beides. Sag ich doch“, sagt Carl.
„Haben Sie auch einen Baum?“, fragt Alfred.
„Einen Baum, ich glaube nicht.“
„Wissen Sie es denn nicht?“, fragt Regine.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagt Elisabeth-Maria ein wenig traurig. Sie kratzt sich unter ihrer Mütze. Der Hund knurrt. „Aber spielt das denn eine Rolle?“, fragt sie.
Sie sagen alle, nein, das spielt keine Rolle, das ist gar nicht wichtig, alle durcheinander, und das hört sich an wie ein großes Gemurmel, und das bringt den Hund auf, er bellt, aber dann beruhigt er sich wieder und knurrt nur noch.
„Hier lasse ich ihn immer raus“, sagt Elisabeth-Maria an der Kuhmühle und da bleiben sie alle stehen. Sie beugt sich über den Wagen und zieht stöhnend den dicken Hund aus dem Wagen. Der Hund blinzelt ins Licht. Er tritt als erstes an Alfred heran und schnüffelt an seinem Bein.
„Guter Junge“, sagt Alfred und beugt sich runter.
„Nicht anfassen“, sagt Elisabeth-Maria. „Er ist ein Beißer.“
„Und dann lassen Sie ihn einfach so rumlaufen?“, fragt Regine.
„Er ist ja im Wagen. Da ist er in Sicherheit“, sagt Elisabeth-Maria.
„Vielmehr die anderen Menschen“, sagt Alfred.
„Wie bitte?“, sagt Elisabeth-Maria.
Aber es ist schön zu sehen, wie der Hund das Gelände abschnüffelt, auf eine sehr gründliche und aufmerksame Art und Weise. Versuchsweise trabt er ein Stück, rennt dann ein bisschen und macht sogar einen kleinen Hüpfer. Er entleert sich an einem Baum. Elisabeth-Maria beseitigt den Kot geschickt mit einer kleinen Tüte. Dann stopft sie den Hund wieder in den Wagen. Der Hund ist damit einverstanden. Er knurrt nur ein bisschen.
„Wollten denn ihre Schwester und ihre Mutter nicht mitkommen?“, fragt Gabriela.
„Ich habe keine Schwester. Mutter ist tot. Sie starb ’87 im Schwarzwald. Sie ist angeschossen worden und danach ist sie vor Kummer gestorben. Angeschossen vom eigenen Mann. Ist das zu glauben?“, sagt Elisabeth-Maria.
„Aber sie sagten doch…“, Carl verstummt. Jetzt, denkt Gabriela, hat der einfältige Junge es erst begriffen, oder auch erst ansatzweise erfasst, wie es steht, mit dieser Elisabeth-Maria. Sie erreichen derweil die Alsterperle. Da stehen viele reiche Menschen und trinken Sekt, in ihren guten Mänteln, und haben auch vereinzelt kleine, flauschige Hunde dabei und grüßen sich, an diesem düsteren, festlichen Abend auf eine aufgekratzte Art und Weise.
„Mögen Sie Glühwein?“, sagt Alfred.
„Mit Ihnen trinke ich immer gern“, sagt Elisabeth-Maria und lächelt ihn an. Sie hat sich bei ihm eingehakt und Alfred scheint es recht zu sein.
„Sie erinnern mich an jemanden“, sagt Alfred. „Fast möchte ich sagen, ein bisschen erinnern Sie mich an meine verstorbene Frau.“
„Vater!“, sagen Ellie und Gabriela fast zur gleichen Zeit. „An Mutter nun doch gar nicht“, sagt Ellie.
„Das hast du doch nicht zu bestimmen, an wen mich diese Frau erinnert“, sagt Alfred.
Er reicht Elisabeth-Maria den Glühwein.
„Sie haben dieselbe Art… ich weiß auch nicht. Irgendwas an ihrem Frohsinn…“
Gabriela bestellt sich mit Schuss. Carl, sieht sie, drängt sich an seines Opas Seite.
„Wir konnten ja immer so gut miteinander“, sagt Elisabeth-Maria.
„Ihr kennt euch doch gar nicht“, sagt Gabriela.
„Sei doch nicht so böse“, sagt Carl.
Dann stehen sie an der schmutzigen, grauen Alster, die tatsächlich von innen her leuchtet, wie ein großer, schmutziger Teller. Kleine Enten schaukeln auf den winzigen Wellen und außen herum leuchten die ganzen elektrischen Lampen der Großstadt, der Himmel ist orange getönt und kein einziger Stern ist zu sehen.
„Schön ist das“, sagt Elisabeth-Maria. Als Menschen sich ihrem Wägelchen nähern, knurrt der unsichtbare Hund.
„Er tut nichts“, sagt Alfred vorsorglich zu den Menschen. Er hat ganz die Verantwortung übernommen. Er führt Elisabeth-Maria am Arm zurück, und als sie in ihre Straße abbiegen wollen, sagt er, „geht nur, ich bringe die Dame eben noch nach Haus.“
„Kann es sein“, sagt Ellie, als sie außer Sichtweite sind, „dass er diese Verrückte mit unserer Mutter vergleicht?“
„Sie ist vielleicht nicht richtig verrückt. Sie ist vielleicht eher ein bisschen sehr fantasievoll“, sagt Birgit, Regines stille Freundin, und sie sagt es ganz still, aber umso wirkungsvoller ist es. Wenn so stille Leute plötzlich sehr still etwas sagen, dann ist es manchmal, als ob eine Bombe einschlägt.
„Kind“, sagt Ellie, „ich verstehe ja, dass du dir das wünschst, aber zwischen fantasievoll und verrückt gibt es leider einen Unterschied, einen bedeutenden.“
„Das mit dem Weihnachtsapfel finde ich ganz schön“, mischt sich Carl ein. Sie sind die Treppe hochgestapft und hängen die Mäntel auf die überlastete Garderobe. In der Wohnung ist es heiß und stickig, es riecht nach allem zu viel. Nach Essen, nach Kuchen, nach Tanne, nach Menschen und Teppich und feuchten Füßen.
„Aber es ist doch echt anstrengend, immer gerade nach dem richtigen Apfel zu suchen. Ich frag’ mich, ob sie auch nach der richtigen Weihnachtsnuss sucht. Das ist doch Stress. Und was ist mit ihrer Mutter und Schwester jetzt?“
Gabriela lässt sich in den Sessel fallen. Sie greift nach dem Weinglas auf dem Glastisch.
„Junge“, sagt sie, „sie hat doch gar keine Schwester und die Mutter ist im Schwarzwald angeschossen worden, von ihrem Mann. Oder sie hat doch eine Schwester. Aber sie hat es vergessen. Dafür kann sie sich an deinen Opa ganz gut erinnern, und frag mich nicht woher. Sie ist, Junge …, sie ist …, einfach ’ne arme Sau.“ Nach dieser Rede ist die Luft aus ihr raus. Sie liegt fast im Sessel und ihre Arme und Beine sind schlaff.
„Ich denke, du siehst das falsch, ich sehe das eher wie Birgit“, sagt Carl.
„Du bist jung“, sagt Gabriela und lächelt Carl liebevoll an.
Sie gestehen es sich vielleicht nicht ein, aber sie warten auf Alfred. Sie machen sich sogar Sorgen. Sie sehen sich alle zusammen „Ist das Leben nicht schön?“ an, aber keiner weint, als George gerettet wird und die Menschen das Geld spenden.
„Was macht er denn so lange?“, sagt Ellie. „So weit kann es doch nicht sein.“
Bert erhebt sich. Er lässt den Mann raushängen.
„Dann sollte ich ihn vielleicht suchen gehen“, sagt er.
„Wo denn?“ sagt Ellie, hämisch grinsend.
„In was sie ihn da wohl reingeritten hat?“, sagt Gabriela. Und zu Bert sagt sie, „Du bleibst hier!“ Bert setzt sich wieder. Er hat ja auch seine Pflicht als Mann erfüllt.
„Ihr solltet euch da mal besser keine Sorgen machen“, sagt Carl.
Alfred kommt erst Stunden später wieder.
„Eine bemerkenswerte Frau“, ist das erste, was er sagt, als er in die Stube tritt.
„Wirklich?“, sagt Ellie. Aber alle warten auf das, was er zu erzählen hat. Er tritt in die Stube wie ein Weihnachtsmann. Und das ist er ja auch. Er ist dick und hat einen weißen Bart und weiße Haare, seine Wangen sind gerötet.
„Sie hat sehr interessante Angewohnheiten. Sie packt doch das Leben auf eine ganz ungewöhnliche Art und Weise an. Ihr werdet es nicht glauben, ihr denkt vielleicht, sie ist arm, aber arm ist sie nicht. Sie hat ’ne Riesenbude am Kanal. Hochherrschaftlich. Sie wohnt da ganz alleine drin, aber überall stehen Sachen rum, Gegenstände, die ganz besonders sind. Ein Reh aus Stahl. Sie hat was übrig für Schönheit. Sie hat Geschmack. Was sie mir alles erzählt hat, Sachen!“
Ein Leben hat sie gehabt
Er winkt ab. „Ein Leben hat sie gehabt. Sie ist Sängerin gewesen, singt immer noch sehr gut, wirklich. Sie hat mir vorgesungen. Toll!“ Alfred drückt seine Handflächen zusammen und lächelt ins Leere, in der wundersamen Erinnerung schwelgend.
Dann fängt er sich wieder. „Sie hat eine große Familie gehabt, aber es sind ja alle schon tot. Und was für Geschichten, man glaubt es nicht, manche Familien trifft es doch auf eine ganz eigene Art und Weise. Jedenfalls …, wir wollen den Kontakt halten. Ich gebe zu, sie ist ungewöhnlich, sie vergisst auch viel, sie ist eine recht vergessliche Person, aber wisst ihr … sie erinnert mich in mancher Hinsicht so an eure Mutter! Mir ist ganz warm ums Herz geworden.“
Alle im Zimmer sehen sich an.
„Vergesslich, Papa, du findest, sie ist ein bisschen vergesslich?“, sagt Gabriela.
„Hat sie denn einen Weihnachtsapfel?“, fragt Carl.
Alfred hebt die rechte Hand, Daumen und Zeigefinger bilden einen Kreis, „einen 1 A Weihnachtsapfel. Er liegt auf einem Teller, der auf einem goldenen Fuß steht. Und die Nuss liegt auf einem anderen Teller, sie ist versilbert, aber echtes Silber, nicht Silberpapier, wenn ihr das denkt. Und wenn ihr glaubt, sie spinnt, dann irrt ihr euch. Sie ist eine vollkommen normale Frau.“
„Na“, sagt Carl und klatscht in die Hände. „Dann ist doch alles super.“ Er springt auf und umarmt seinen Opa.
Ein Prachtkerl ist er, denkt Gabriela, und wird immer prächtiger. Kann sogar schon Leute umarmen. Welcher Jugendliche kann so spontan und an der richtigen Stelle Gefühle zeigen? Die wenigsten doch wohl.
„Und wisst ihr, was sie zum Schluss gesagt hat, als wir beide uns an der Tür verabschiedet haben?“, sagt Alfred, als sie alle zusammen den guten Brandy bis zum letzten Tropfen geleert haben. Alle roten Gesichter, bereit zu verzeihen, bereit die Welt so zu nehmen, wie sie ist, bereit, sich nicht mehr zu wundern und nicht zu verurteilen, richten sich ihm entgegen, wie Blumenköpfchen der Sonne. „Sie hat gesagt“, er wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, „dass ich heute Abend ihr Jesuskind wäre.“
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