Eine Zeitreise in ein fremdes Land

Unterlagen des DDR-Außenministeriums offenbaren, wie westdeutsche Journalisten von ihren DDR-Betreuern nicht nur überwacht, sondern auch überschätzt wurden/ Lob an die 'Zeit‘: „Umfassende Korrektur des DDR-Bildes“  ■ Von Wolfgang Gast

Am Ende der zehntägigen Reise durch den ersten Arbeiter- und Bauernstaat herrschte allseits Zufriedenheit. Bei einem Abschlußcocktail im Ostberliner Palast-Hotel am Abend des 3.Juni 1986 bedankte sich Theo Sommer, Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung 'Zeit‘, bei allen, die ihm und sechs seiner Kolleginnen und Kollegen die äußerst ergiebigen Recherchen in der DDR ermöglicht hatten. Die Schriftsteller Christoph Hein und Stephan Heym waren geladen, der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der Leiter der Ständigen Vertretung Hans Otto Bräutigam: Repräsentanten jener Elite der Entspannungspolitik, die damals noch nicht ahnen konnten, wie schnell die DDR nur drei Jahre später zusammenbrechen würde.

Daß das Zustandekommen und der Verlauf der 'Zeit‘-Reise in Dokumenten, die der taz vorliegen, detailliert festgehalten wurden, läßt sich mit dem paranoiden Syndrom der Überschätzung der Medien interpretieren und ist einem Mann namens Wolfgang Meyer zu danken. Er spielte als Leiter der Hauptabteilung Presse beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR nicht nur den Reiseleiter für das 'Zeit‘-Team; gemeinsam mit der ihm unterstellten Mitarbeiterin Carl beobachtete und überwachte er es auch. Über den Abschlußcocktail notierte er eilfertig für seinen obersten Dienstherrn, den Partei- und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker: „Sommer äußerte seinen Dank für die Möglichkeit, eine solch informative Reise, um die ihn mancher Staatsgast beneiden würde, durchführen zu können. Sie habe viel zum gegenseitigen Verstehen beigetragen, einen Lernprozeß in Gang gesetzt.“

Zwei Tage später, am 5.Juni 1986, übermittelte das Politbüromitglied Joachim Hermann dem „lieben Genossen Honecker“ Meyers Bericht mit der frohen Botschaft, wonach sich bei Theo Sommer die Erkenntnis vertieft hätte, „daß nicht die Vereinigung der beiden deutschen Staaten das Ziel sein könne, sondern Einigung mit dem Ziel der Friedenssicherung“. Für die Ostberliner Parteiführung war dies um so tröstlicher, als sie in den westdeutschen Medien zu dieser Zeit „intensive Vorbereitungen des Gegners für eine massive Hetzkampagne gegen die DDR anläßlich des 25.Jahrestages der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles“ zu entlarven glaubte.

Die Rundfahrt war in den Augen der DDR-Führung ein voller Erfolg. 22 Jahre, nachdem Theo Sommer, Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Walter Leonhardt für die 'Zeit‘ erstmals die DDR bereisen durften, war den RedakteurInnen im Anschluß an ein vielbeachtetes Interview mit Erich Honecker die Wiederholung ihres Projektes „Reise in ein fremdes Land“ gestattet worden. Das placet erteilte der Staatsratsvorsitzende höchstselbst. Das umfängliche Reiseprogramm wurde wie ein Staatsbesuch vorbereitet. Um kulturelles Weltniveau zu demonstrieren, durfte das 'Zeit‘-Team die staatliche Kunstsammlung in Dresden besuchen, das Nationaltheater in Weimar und ein Gespräch mit dem Direktor der Wartburgstiftung führen. Besichtigt wurden außer den Carl-Zeiss-Werken in Jena eine LPG in Neubrandenburg. Den Gesprächen mit lokalen Funktionären folgte die Diskussion über Berufsabsichten mit einer Abiturklasse in Wismar — Höhepunkt waren Gespräche mit den Politbüro- Mitgliedern Günter Mittag, Werner Felfe und Kurt Hager.

Erich Honecker ließ sich während der gesamten Reise auf dem laufenden halten. Beinahe täglich lieferte der tüchtige Genosse Meyer „ergänzende Informationen“, „Vermerke“ oder „Kurzinformationen“. Schon beim Begrüßungsessen, meldete er vertraulich seinen Vorgesetzten, habe er versucht, Theo Sommers eingereichte schriftliche Fragen an Verteidigungsminister Heinz Keßler zu entschärfen: „Ich sagte ihm unter vier Augen, daß ich bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen andere Fragen von ihm für das Interview mit unserem Verteidigungsminister erwartet hätte. Sommer erklärte, er wolle auf keinen Fall provozieren, aber er wolle sich auch von bestimmten Leuten in der Bundesrepublik nicht vorwerfen lassen, er sei ein 'Schlappschwanz‘. Das sei ihm nach dem Interview mit dem Staatsratsvorsitzenden von einigen gesagt worden.“

Zum Abschluß der Reise verfertigte Abteilungsleiter Meyer schließlich einen Bericht, in dem es heißt, „im anfänglichen Herangehen wurde deutlich erkennbar, daß sie (die 'Zeit‘-Redakteure, d. Red.) zwar bereit waren, gewisse Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen, diese jedoch vom Standpunkt einer gewissen Überheblichkeit und der Überlegenheit ihres Gesellschaftssystems bewerten.“ Sie wollten dem Sozialismus seine „Alternativwirkung“ absprechen. Das erste Drittel der Reise sei durch diese Grundhaltung, „gepaart mit einer gewissen Skepsis, ihnen würden 'potemkische Dörfer‘ vorgeführt“, bestimmt gewesen. „Herangehen und Fragestellungen“ hätten sich im Verlauf aber verändert. Überrascht und konsterniert ob der Sachkenntnis, „des souveränen Auftretens der Gesprächspartner, ihrer mit Leistungen demonstrierten Verbundenheit mit dem sozialistischen Staat“, aber auch durch die Darlegung der noch zu lösenden Probleme seien die 'Zeit‘-MitarbeiterInnen in die Rolle der Verteidiger ihres Systems gedrängt worden. Sie hätten sich bemüht, die Überlegenheit ihres Systems „argumentativ nachzuweisen“.

„Da dieser Versuch mißlingen mußte“, berichtete Meyer im besten Parteideutsch, „schlußfolgerten sie: Diese Führungselite könnte auch jederzeit als Politiker oder Konzernchefs in der BRD arbeiten.“

Dies war nicht der letzte Bericht, den Meyer für das Politbüro über die Reise anfertigte. Nach dem die 'Zeit‘ zwischem dem 20.Juni und dem 15.August 1986 ihren DDR-Report in neun Folgen veröffentlicht hatte, formulierte Genosse Meyer ein abschließendes Resümee. Dieses fiel ausgesprochen positiv aus. Vergleiche man die Serie Reise in das andere Deutschland von 1986 mit dem Buch Reise in ein anderes Land von 1964, „so wird sowohl die großartige Entwicklung der DDR seit jener Zeit als auch der veränderte Standpunkt der Autoren auf Grund der Realtitäten deutlich“. Meyer gewichtete auch Einfluß und Stellenwert, den der DDR-Report für die ständig um Reputation bemühte DDR haben könnte. Dazu führte er nicht nur die 450.000 Exemplare zählende Auflage an — dadurch, daß nach Angaben der Redakteure jedes 10. Exemplar ins Ausland verkauft würde, erwartete Abteilungsleiter Meyer auch international große Anerkennung. Der Genosse war voll des Lobes. Die 'Zeit‘ schien — zusammen mit den „hinter dem Blatt stehenden realistisch denkenden Kreisen der BRD- Großbourgeoise“ — regelrecht zum Verbündeten avanciert.

Meyer versuchte auch noch die Diskussion in der 'Zeit‘-Redaktion nach der Reise zu verfolgen. Konservative Kräfte, wußte er dem Politbüromitglied Hermann zu berichten, hätten in Hamburg gedrängt, auf die Konzeption der Serie Einfluß zu nehmen und deren Umfang zu verkürzen. Theo Sommer, der nicht nur die „Bereitschaft zur Fortsetzung des Dialogs“ dokumentieren, sondern als Teil der „realistisch denkenden Kreise“ zugleich den Erfolg der „Politik des 'Wandels durch Annährerung‘ beweisen“ wollte, habe sich aber durchgesetzt.

Michael Sontheimer, heute Chefredakteur der taz und damals Redakteur im Dossier der 'Zeit‘, charakterisiert diese Interpretation hingegen als „rührende Verschwörungstheorie“. Damals hätten vielmehr die in der Hamburger Redaktion eher als grün bis anarchistisch verrufenen Dossier-Redakteure gegen den Abdruck der Reiseberichte in ihrem Ressort rebelliert. „Vergeblich“, wie Sontheimer sich erinnert.

Das Unbehagen der Dossier-Redaktion an der freundlichen Länglichkeit des DDR-Reports teilte der Genosse Meyer offenbar nicht: Auch wenn die Berichte teilweise durch „Ignoranz“ und „Arroganz“ gekennzeichnet gewesen wären, so stellte die Serie, „insbesondere zusammen mit dem Interviews Erich Honeckers, die bisher umfassendste Korrektur des DDR-Bildes durch ein großbürgerliches Medium der Bundesrepublik in der BRD dar“.

Theo Sommer heute: „Für uns war das Ganze nichts anderes als eine journalistische Expedition in den anderen deutschen Staat. Wir wollten das Terrain vermessen, wollten uns nach einem Jahr Gorbatschow ein Bild von den Chancen einer DDR- Perestroika verschaffen. Unser Urteil von 1986 hat uns nie daran gehindert, die negativen Entwicklungen, die in der DDR während der folgenden Jahre zu verzeichnen waren, scharf zu kritisieren.“