Eine Silvester-Erzählung: Das Gute ist das Leben, das man kennt
Silvester mit alten Freunden in einem Haus auf dem Land: Das kann grauenhaft schief gehen. Vor allem, wenn plötzlich der kranke Ex-Freund auf der Matte steht.
Nach Weihnachten fängt es an zu stinken. Nora riecht an ihrer Wolldecke. Die Decke riecht ein bisschen nach Wolle und Muff, aber nicht schlimm. Schlimm fängt im Flur an, schlimm wird schlimmer, wenn sie die Treppe hinuntersteigt und am schlimmsten wird der Geruch im Wohnzimmer, in dem sie sich irgendwann alle versammeln.
Sie ist die einzige ohne Partner und das wäre kein so großes Problem, wenn sie nicht vor kurzem auch noch einen gehabt hätte. Nun schläft sie in einem Bett, das für zwei gedacht war, ein Bett, in dem der Partner fehlt, nicht ihr, aber grundsätzlich, in der Aufstellung.
An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingen und aßen und vor allem tranken, hatten sie häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um ihn herum und um sie herum. Sie gewannen beide in Gegenwart anderer, auch für sich selbst. Sie waren attraktiv im Vergleich. Allein, für sich zu zwein, waren sie das nicht mehr. Die Attraktivität von ihnen beiden zerbrach an der Einsamkeit. Dass sie überhaupt einsam waren, wenn sie zusammen waren, lag auch daran, dass sie so gut zusammen passten, sie waren zu zweit wie einer.
Es hatte eine Störung gegeben, er hatte zum Arzt gemusst, es gab Untersuchungen und es konnte, möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte lieb gelächelt und ihre Hand genommen, als sie gemeinsam vom Arzt nach Hause liefen, winzig kleine Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit, und die Feuchtigkeit in ihren Augen war gar nicht seiner Krankheit gezollt.
Er wollte kämpfen, um sie und um seine Gesundheit
Am selben Abend sagte sie ihm, dass es vorbei sei, mit ihrer Liebe zu ihm. „Es tut mir leid“, sagte sie, „aber ich kann nichts dafür, es ist einfach so gekommen.“
ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen. Ihr jüngstes Buch, "Eheroman", erschien 2012 bei Rowohlt.
Er trug es mit einer zarten Verzweiflung, aber mit einem tapferen Lächeln im Gesicht. Er wolle kämpfen, sagte er, um seine Gesundheit und ihre Liebe. „Du bist überfordert“, sagte er auch und sie stellte es nicht richtig.
Er legte sich auf die Couch und sah sich „Friends“ auf DVD an, während die Flocken an das Fenster taumelten und in der Küche der Geschirrspüler summte. Sie setzte sich in den Sessel und sie sahen die ganze Nacht die alten „Friends“, eine Folge nach der anderen, und während sich Ross und Rachel liebten und trennten, schien ihr das Lieben und das Trennen nur Teil eines großen albernen Zwanges, aber sie konnte nicht von dem Sessel aufstehen und ins Bett gehen, sie musste es sich alles ansehen, obwohl sie es alles schon mehr als einmal gesehen hatte.
Das Haus gehört Sebastians Mutter, die in Holland bei ihrer Schwester lebt. Es ist eine kleine, rote Backsteinvilla mit moosigem Dach, die ein Stück zu weit vom Meer entfernt steht und zu ungepflegt ist, um gewinnbringend verkauft zu werden, aber die Luft um das Haus ist so feucht und so salzig wie das Meer selbst und drumherum gibt es nur Felder und Kühe und einen diesigen Waldrand.
Sie dreht sich auf ihrer Wolldecke, Regen klatscht gegen das Fenster. Weihnachten war nicht das Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und geschenkelos war, das Schlimmste war, wie nett sie alle mit sich waren. Jonas und Judith, Herrmann und Linda, Jürgen und Sarah, Sebastian und Christina. Jürgen und Sarah hatten sich nichts geschenkt, weil sie nach Island fahren wollten, im nächsten Jahr, das war das Geschenk gewesen. Die Anderen hatten sich auch kaum was geschenkt, es war eigentlich gar kein Problem der Geschenke gewesen, sie wusste eigentlich nicht, was das Problem gewesen war. Das Problem war vielleicht, wie der Baum ausgesehen hatte, so vollgehängt mit Kugeln, und dass sie überhaupt einen Baum hatten, wie eine Familie und dass sie Weihnachtslieder sangen, Jimmy hatte „Jingle Bells“ gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Sie hatte auf dem Teppich gesessen und etwas kaltes Fleisch aus dem Kühlschrank gegessen, während die Anderen ihr Papier falteten und sich küssten.
Wenn sie doch jetzt „Friends“ sehen könnte, hatte sie gedacht. Keiner von ihnen war so witzig wie Phoebe oder Ross oder so süß wie Rachel. Das war ihr aufgefallen und auch, dass sie gemein war. Sie hatte überhaupt keine Gefühle mehr in sich drin, für irgendjemanden aus der Runde, sie sah sie alle ganz kalt und ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber „Friends“ geguckt.
Da fing es mit dem Geruch an. Der Geruch war erst nur schwach, und sie hatte sich gefragt, ob er von einem einzelnen von ihnen ausging, von Hermann vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich war, inkontinent, kränklich? Aber mit der Zeit fiel es ihr auf, dass der Geruch sich in den Nuancen unterschied und dass er von jedem einzelnen von ihnen anders ausging.
Der Geruch jedes einzelnen vervielfacht sich
Da ist der nussartige, talgige Geruch der Kopfhaut von Jonas, der säuerliche, leicht ranzige Geruch von den Achseln von Judith, der beißende Geruch der Urintröpfchen, die in der Luft bleiben, wenn Jimmy die Toilette verlässt, der Geruch von faulenden Essensresten in den Räumen zwischen den Zähnen von Sarah, dazu der Geruch von Verdautem, Darmgase, alter Rauch in der Kleidung von Jürgen und Haut und Atem und kreisende Flüssigkeiten wie Blut und Speichel. Sie nimmt es alles einzeln war und dann verdoppelt es sich und vervielfacht es sich ins Unerträgliche. Sie begegnet dem mit Trinken.
„Wie geht es Christian?“, fragt Judith, während sie am Tisch grüne Bohnen schneidet.
Nora hockt am Kamin, auf ihren Knien, starrt in die Flammen, das Glas Rotwein in der Hand und müht sich, nicht ins Feuer zu kippen, obwohl sie sich angezogen fühlt. Der Rotwein hängt wie alter Belag auf ihrer Zunge und den Zähnen und lähmt sie.
„Wie du weißt …“, hier legt sie eine längere Pause ein, um einen Schluck Wein zu trinken, einen neuen einzugießen, und auch, ein wenig, um die Spannung zu steigern, „ist er krank.“
Dann zündet sie sich eine Mentholzigarette an, obwohl sie gar nicht raucht und das gar nicht erlaubt ist im Haus. Wer raucht, Jürgen zum Beispiel, in seiner alten, blauen Daunenjacke, aus der die kleinen Daunen einzeln rauspieksen und davonschweben, als würde er sich ganz langsam verlieren und im alten, feuchten Haus verteilen, der tut das Rauchen trampelnd, mit hochgezogenen Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke. Er kneift dabei die Augen zusammen, und manchmal redet er mit sich selbst. Manchmal fällt ihm die Asche von der Zigarette, weil er vergisst zu ziehen. Manchmal steht er da, als wollte er steif frieren, reglos und in seinen kleinen, zarten alten Federchen.
Sie zieht tief durch und der Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen, so brennt es in ihrer Lunge.
Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und sieht nur kurz rüber, ganz nett sogar. Judith riecht nach ihren Achseln. Und nach Bohnen. Und nach Küche.
Stimmt mit ihr etwas nicht?
Nora drückt die Zigarette auf dem Unterteller mit den Mandarinenschalen aus. Sie kann gar nicht rauchen. Sie kann nicht trinken. Sie ist kein Rebell, in gar nichts ist sie rebellisch, sie hat nur aus Furcht ihre Beziehung beendet. Ihr kommt der Gedanke, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Vielleicht stinken die Menschen irgendwie, aber normal ist es, den Geruch seiner Freunde in die Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen und zu erkennen als das Gute. Das Gute stinkt nicht. Das Gute ist das Leben, das man kennt.
Judith lächelt wieder auf ihre vorsichtige Art. Judith hat so Augen von denen man sagt, dass sie Pünktchen in sich drin haben. Judith hat auch eine Stupsnase und Sommersprossen.
„Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles.“
Sie fragt sich, was sie damit meint.
„Was wird?“, fragt sie und analysiert Judiths Geruch, Judith riecht wie dürre, ausgetrocknete Frauen riechen, wenn sie zu wenig trinken und essen, wenn die Haut sich faltet und ihr Körper sich von innen nach außen reckt und um ein Tröpfchen Ölung giert. Judith ist so schlank wie ein Reh im eisigen Winter. Und hat Augen mit Pünktchen. Geschmack und Witz.
„Das Leben ist halt kompliziert“, sagt Judith und zwinkerte mit ihren Pünktchen und zwinkert noch mal.
„Neinneinneinnein“, sagte Nora. Sie spürte, wie der Text, diese ’Ns‘ und ’Ns‘ sie hin und her wiegen, „Das Leben ist … ganz einfach.“
Und obwohl sie ein bisschen betrunken ist, und gar nicht mal so wenig, kommt es ihr wirklich so vor, als wenn sie was ganz Wichtiges erkannt hätte, eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie nur eine Tür geöffnet, hinter der das Einfache sich endlich offenbart, als Gemeinheit. Eine große Klarheit nähert sich ihren Gedanken, Gegenstände und Gerüche und Möbel und Melodien drum herum aufgereiht. Es ist alles einfach, wenn man die Nettheit von Judith weglässt.
„Christan ist krank, ja?“, sagt Nora in ausgewählter Langsamkeit. Dazu hat sich indessen Herrmann gesellt.
„Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann hat immer etwas Schmuddeliges an sich, obwohl er sehr gepflegt ist. Gepflegt, immer neue Sachen, feines Wollhaar, Schuhe, so schön wie ein vergangenes Jahrhundert.
„Er ist vielleicht krank, ja?“, wiederholt sie.
Vier Augen blickten sie an. Zwei Pünktchenaugen, zwei braune Brillenaugen.
„Ich wollte ihn nicht pflegen.“
Sie nicken. Sie lassen sich nicht provozieren. Sie sehen sich an, sie tauschen irgendwas aus, aber sie sagen gar nichts. Sie nicken nur.
„Ich hätte es gekonnt, aber ich wollte es nicht.“
„Das kann man ja verstehen“, sagt Herrmann. Er nimmt die Bohnen nicht in die Hand. Er kocht nicht. Er kann nichts, was Geschicktheit verlangt. Er legt seine breiten, weichen Hände nur auf den Tisch und müht sich um Ruhe und Gerechtigkeit.
„Findest du?“, fragt sie. „Ich finde ...“ Sie weiß gar nicht, was sie findet. Sie steht der Krankheit von Christian ganz neutral gegenüber. Mit ihr hat das gar nichts zu tun.
„Wir bemühen uns wirklich, dich zu verstehen. Wir wissen nicht, was zwischen euch passiert ist, aber niemand verurteilt dich. Wirklich. Du musst deinen eigenen Weg gehen.“
Sie nickt. Ihren eigenen Weg gehen.
Am Abend vor Silvester ist ihr schlecht von den Gerüchen und sie bricht in die gelbliche Toilettenschüssel. Christian ruft an, er will mit ihr reden, er klingt nett und vernünftig.
„Silvester geh ich mit Ingbert essen. Er sagt, es war notwendig, dass du dich von mir getrennt hast, wir waren in einer Sackgasse und es war eine Art von Distanzierung, die notwendig war, für dich, für uns. Damit du dich abspalten und wieder du selbst sein konntest. Die Krankheit, also meine Krankheit, hätte dich sonst ganz in unser ’Wir‘ gezogen. Aber ich denke, wenn wir das erkennen, dann haben wir eine Chance. Wir können doch einen Schnitt machen, einen sauberen Schnitt und dann haben wir doch eine ganz neue Chance?“
„Sicher“, sagt sie, aber ihre Stimme sagt fast gar nichts. Sie fragt sich, wie neu und groß die Chancen sind, für ein ’Wir‘, wenn einer von dem ’Wir‘ vielleicht ganz schlimm krank ist und der Andere nur sich selbst noch riechen kann.
Am Silvestermorgen ist es ihr klar, dass alle ihre Freunde stinken.
Sie geht hinaus in die Kälte, es ist trocken und eisig und es liegt auch kein einziges Fitzelchen Schnee. Die Farben sind klar. Die Himmel ist blau, winzige Federn aus Jürgens alter Jacke haben sich zum Horizont hin weißlich verdichtet. Die Felder sind schwarz und der Boden und die alten Stoppeln in ihrer Form erstarrt. Die Bäume stehen kahl in der Landschaft herum. Jedes Blatt ist hartgefroren, jeder einzelnen roten Beere haftet ein farbliches Drama an und über allem liegt eine Schicht von kaltem Glitzer. Sie geht ganz allein, sie hat zu Judith gesagt, „Nein, ich möchte lieber allein.“ Judith wäre mitgekommen, obwohl sie sich immer krümmt in der Kälte und ganz entsetzlich friert mit ihrer Magerkeit und in ihrer dünnen Haut.
Betrogen ums Weihnachtsfest
Ihr Atem dampft vor ihr her, es bimmelt aus der Erinnerung, ein weihnachtliches Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das Weihnachtsfest fehlt ihr plötzlich, als wäre sie drum betrogen worden. Die Kindheit fehlt ihr plötzlich, die Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich etwas zu erhoffen. Das Leben ist ganz einfach, kommt es ihr wieder in den Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die sich auf den Weg setzen, Schritt für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und Grashalme zerbrechen. Der Geruch der Draußenwelt ist angenehm, ist sauber und kalt wie der Tod.
Als sie zurückkommt, ist er da. Er sitzt in der Küche, trinkt warme Milch, und ist einfach da, ganz normal. Linda sitzt bei ihm, hält ihren Kopf schräg geneigt und hört ihm zu, wie er von der Krankheit erzählt. Nora bleibt in der Tür stehen, er bemerkt sie, er hat ein kleines, schlechtes Gewissen, sieht sie.
„Wo willst du denn jetzt schlafen?“, fragt sie, als wäre das das größte Problem, während die Hitze und die Küchengerüche sie angreifen.
Er zuckt mit den Schultern. Er kramt nur mit letzter Mühe ein Fünkchen Humor noch heraus. Aus den Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen Flitter und kein Gold.
„Wer will denn hier schlafen?“, sagt er und bemüht sich um ein Lächeln. Seine Lippen sehen ganz spröde aus und ein Mundwinkel ist eingerissen.
„Was machst du denn hier?“, fragt sie weiter und ohne auf ihn einzugehen. Unfähig, nett zu sein. Der Geruch von Mensch strömt in ihre eisig kalten Nasenlöcher.
„Nora!“, ermahnt Linda sie, sie hat ein bisschen echten Hass in den hübsch geschminkten Augen.
„Du wolltest doch nicht kommen!“, Nora kann nicht aufhören, sie weint fast vor Wut.
Er schüttelt den Kopf. Linda legt ihren Arm um ihn, auf seinem Stuhl, wo er sitzt, gekrümmt, mit Blick auf seine Schuhe. Seine Schuhe sind schon aufgebunden, als wollte er sie ausziehen und hat es dann doch nicht getan, weil er sich nicht sicher war.
„Nora, hör doch auf!“, fleht Linda.
„Du wolltest doch mit Ingbert essen gehen. Du hast gesagt, meine Distanzierung war notwendig.“
„Ich hätte nicht kommen sollen.“ Er senkt den Kopf noch tiefer. Er ist eigentlich ganz erledigt und gar nicht so klug und auch gar nicht so ausgeglichen, wie er sie das am Telefon hat glauben lassen.
Der Wohlgeruch von Hund
Sie geht am Wohnzimmer vorbei, die Treppe hoch in ihr Zimmer und legt sich auf die Decke. Sie steckt die Nase in die alte Wolle und schnüffelte am alten Wollstaub. Ein Hund würde gut riechen, denkt sie. Ein Schaf auch. Hühner. Schweine, Schweine riechen nach Schwein. Pferde. Sie weiß ganz genau, wie Pferde riechen, wie sie am Hals riechen, wie ein Hund aus dem Maul riecht, wie Katzenpipi riecht, all das kennt sie und es würde gut sein und nicht eklig, selbst wenn es stank.
„Hallelujah, hallelujah!“, schreit unten jemand. Dann klopft es an ihre Tür. Herrmann.
Sie bleibt liegen, dreht nur kurz den Kopf zurück, ihm ihren Hintern zuwendend, aufgestützt auf ihren Arm, aus dem kleinen Fenster sehend, auf das Feld und die schwarzen Bäume hinten am Horizont, der rot wird und glüht, als stände es alles in Flammen.
„Ich möchte wirklich wissen, was mit dir los ist“, sagt Herrmann.
„Ich auch. Ich möchte das auch wissen“, sagt sie.
„Das ist ja immerhin was“, sagt Herrmann und schweigt eine Weile. In der Stille hört sie sein Schnaufen, das ihn immer begleitet. Er hat sich eine Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der Freak, der am wenigsten Attraktive in der Gesellschaft auserwählter Freunde rund herum um einen Sohn mit Depression. Er hat kaum Humor. Er ist nicht mal besonders intelligent.
„Christian, es geht ihm nicht gut. Und wir sind … sind seine Freunde.“
„Sind – sind“, äfft sie ihn nach. „Dann gehe ich eben.“
„Das musst du nicht.“
„Ich hätte gar nicht kommen sollen.“
Und als er nichts sagt, fügt sie hinzu, „Es riecht.“
„Hier, im Zimmer?“
„Ja, aber noch mehr auf der Treppe. Und am allermeisten …“ Sie schweigt, sie findet es unerhört, was sie sagt.
„Am allermeisten?“, fragt er.
„Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir ist schon ganz schlecht von eurem Gestank.“
„Ich denke, dann solltest du wirklich besser …“, sagte er und schließt leise die Tür, bevor sie den Schluss hören kann.
„Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie sollte wirklich unbedingt gehen. Sie ist diejenige, die nicht zurechtkommt. Sie werden Christian in ihre Arme nehmen und ihn wiegen, bis er schläft. Sie sind alle ganz gute Menschen, verhältnismäßig, und gar nicht so besonders egoistisch. Sie sind klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis, alles was man erwarten kann und sogar noch ein bisschen mehr.
Sie packt ihre Sachen zusammen und schleicht sich raus. Draußen steht ihr Auto neben all den anderen Autos, große und kleine, wie die Verhältnisse so sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen steht auch Jürgen in seinen alten Daunen und ascht in die Vogeltränke. Er hebt die Hand. „Fährst du?“, ruft er.
Sie nickt.
„Warum?“
„Ich muss weg.“
Das Problem mit dem besten Zeitpunkt
Silvesterabend, denkt sie, nicht der beste Zeitpunkt, um abzuhauen. Wenn jemand krank ist, dann ist das nicht der beste Zeitpunkt, um ihn zu verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischt man nur selten, deshalb wird es alles immer so schief, so gar nicht besonders, wie in „Friends“, wo zum besten Zeitpunkt immer das passiert, was dann alle zum Weinen bringt oder zum Lachen, aber so kann man leider nicht leben. Sie fährt den Feldweg runter, ruckelt über die hartgefrorenen Treckerspuren, dem Mond entgegen, denn draußen steht schon der weiße Mond über dem Feld, über dem Dorf und über der Landstraße.
Dann ist da was, zwei Leuchtpunkte, und als sie bremst, sind die Punkte schon unter ihr verschwunden, von ihrem Auto verschluckt, sie stemmt sich mit aller Kraft weiter auf die Bremse, obwohl sie weiß, dass sie vernünftiger bremsen sollte, dass es sowieso schon zu spät ist, weil sie schon drüber ist, sie schliddert und rutscht, sie hört das Quietschen, sie kann gar nichts machen, nur sich innerlich klammern und beben und hoffen, und dann steht sie still an einem Baum, den Gurt hart an den Rippen, sie ist an einen Baum gefahren, nicht schlimm, nur ein bisschen, sie steigt aus und sie sucht mit den Augen die Straße ab.
Auf der Straße liegt ein dunkler Klumpen Tier. Sie zittert ein bisschen, sie nähert sich dem Klumpen, ein Wiesel, eine Katze oder ein kleiner Hund, langgestreckt, auf den Boden gekauert. Sie nähert sich, sie nähert sich recht unentschlossen, die Muskeln tun ihr weh vom Zittern, die Luft riecht nach verbrannten Reifen, irgendwo weit weg knallt es, Lichter steigen auf, über den Bäumen und dem Feld, in rot grün blau, sie geht ganz dicht heran, da bewegt sich was, da bewegt sich der Schwanz, die Katze steht auf.
Die Katze steht auf.
Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie gefahren. Sie steht auf und der Mond scheint auf die Katze und neue Lichter explodieren am Himmel, in grün und silber und die Katze macht, „mau“. Dann geht sie weg. Langsam, majestätisch, ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh, das jede Menge Leben hat. Nora geht zurück, ihr Auto steht am Baum, es ist verbeult, aber es brummt leise, von drinnen strömt ihr die Wärme entgegen, sie setzt sich auf ihren Sitz, fasst das Lenkrad, betrachtet den Baumstamm vor ihrer Frontklappe und das Leben kehrt langsam und freundlich in sie zurück. Vorsichtig legt sie den Rückwärtsgang ein und vorsichtig drückt sich ihr Wagen aus dem Baum heraus.
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