■ Mit Major siegt die einfallslose Seite der britischen Politik: Eine Schweiz mit Atomwaffen
Wo liegt Großbritannien? „Im Herzen von Europa“, sagte Premierminister John Major vor einigen Jahren, als er noch neu im Amt war. Heute sagt man das anders: „Gar nicht Teil von Europa“ seien die Briten bis vor kurzem gewesen, behauptete Frankreichs Präsident Jacques Chirac zum Abschluß des EU-Gipfels in Cannes vor einer Woche – und meinte damit, daß das inzwischen natürlich ganz anders sei. „Wie Hongkong“ wünscht sich der britische Ex-Schatzkanzler und Tory-Rechte Norman Lamont sein Land, als eine Art leuchtendes Juwel neben einem düsteren kontinentalen Giganten. Und jeder Brite weiß, daß das Juwel Hongkong demnächst von seinem chinesischen Nachbarn verschlungen werden soll. Brutaler war vor fünfzehn Jahren Sony Labou Tansi, der Schriftsteller und Satiriker aus Kongo. Die Briten, schrieb er, seien „die Kubaner Europas“.
Es war wohl die Angst, mit John Redwood oder spätestens mit seinem Rechtsaußen-Kumpan Michael Portillo einen englischen Fidel Castro in Downing Street zu installieren, die die konservativen Parlamentarier Großbritanniens am Dienstag in letzter Minute zum Schulterschluß um ihren angeschlagenen Premier bewog. Die eurofeindliche Rechte hat ihre Schlacht geschlagen und verloren, trotz aller Unterstützung, die sie zum Schluß sogar von den großen konservativen Zeitungen wie The Times und The Daily Telegraph erhalten hatte. John Major, der in jedem seiner öffentlichen Auftritte während der Wahlkampagne einen ausgesprochen selbstsicheren und lockeren Eindruck machte, hatte recht, als er nach seinem Sieg die „Zeit der Spaltung“ für beendet erklärte. Man wird von den Rechten wenig hören in den kommenden Monaten.
Denn in dem ganzen Schlachtgeheul der Tories ist leise, aber unmißverständlich auch eine grundlegende Einsicht klargeworden: Die Euro-Skeptiker haben ohnehin ideologisch gewonnen, denn Europa ist tot. Allein in den letzten Wochen verschob die EU erneut die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, erklärte Chirac das Schengener Abkommen zur Abschaffung von Grenzkontrollen als für sein Land vorerst unanwendbar; da verschwand die Agitation um eine Schnelle Eingreiftruppe für Bosnien hinter dem deprimierenden Nichtstun des bosnischen business as usual, und Deutsche, Briten sowie Franzosen präsentierten mit bürgerbewegten Streitereien um die Brent Spar in der Nordsee und die Atomtests im Südpazifik die schönste altmodisch-nationalistische Außenpolitik, gekleidet natürlich in zeitgemäße ökologische Sorgen.
In einer seiner letzten Reden erklärte der scheidende britische Außenminister Douglas Hurd den Kampf um ein föderales Europa versus ein Europa der Nationalstaaten für beendet. Den Föderalismus, sagte er, wolle ja ohnehin niemand mehr. Wozu, so die unausgesprochene Folgerung, sollen sich die Briten denn noch eine extra unsympathische Regierung leisten?
John Major hat im Wahlkampf seine Europastrategie so definiert: Großbritannien soll Wortführer der Skeptiker und kleinen Länder Europas gegenüber dem deutsch- französischen Elefantentandem sein, und zwar innerhalb der EU. Das kann er nun, da die deutsch- französische Freundschaft ohnehin durch Chiracs unbekümmerten Gaullismus zunehmend auf die Probe gestellt wird, lustvoll ausprobieren. Die Labour-Partei unter Tony Blair wird es schwer haben, dem etwas Konkretes entgegenzusetzen in einem Land, dessen Interesse an „Übersee“ – jenen undurchsichtigen Gegenden hinter den Endbahnhöfen der Kanaltunnel-Züge – parallel mit dem Schwinden des britischen Einflusses in der Welt ohnehin auf den Nullpunkt gesunken ist. War Redwood für Großbritannien die Kuba-Option, bietet Major den Briten einen Status ähnlich dem der Schweiz; eine Schweiz, die dazu mit Atomwaffen, einem UN-Vetorecht und einer grandiosen und gut vermarktbaren Geschichte gesegnet ist.
Um aber eine der Schweiz vergleichbare Zufriedenheit im Land selber herbeizuführen, besitzen die britischen Konservativen weder die Kraft noch die Phantasie. Jenseits des europapolitischen Streits, der die Tories an den Rand der Spaltung schlittern ließ, liegt ein einmütiger Richtungsverlust über den zukünftigen Zustand der britischen Gesellschaft, der sich nicht andauernd durch innerparteiliche Ausnahmezustände kaschieren läßt. Es gibt bei den britischen Rechten kein nennenswertes Gegenstück zu einem Newt Gingrich, der in den USA eine libertär-individualistische „Hau den Staat“- Mentalität verkörpert. Es gibt auch keinen politisch organisierungsfähigen christlichen Fundamentalismus US-amerikanischer Prägung, der die politische Debatte mit moralischen Schranken versehen kann.
Das ist natürlich einerseits ein Problem weniger und womöglich auch eine weitere Gemeinsamkeit von Briten und Schweizern. Aber es ist auch ein beunruhigendes Zeichen ideologischer Stagnation. Die Briten leben noch viel zu sehr in einer Klientelbeziehung zu ihrem Staat, der ihnen ihrer Meinung nach Hauseigentum, Sicherheit und königliches Entertainment zu garantieren hat. Kein Tory – der Begriff entstammt ja selbst der paternalistischen Tradition prädemokratischer Politik – will daran rütteln, auch und gerade nicht die Rechte. Auch die Linke, die unter Blair im Zeichen des von ihm neuentdeckten Kommunitarismus die Gemeinschaft zum Wert an sich erhebt, hat es nicht geschafft, grundlegend neue Auswege aus der britischen Krise zu finden. Der Witz, daß Tony Blair der beste konservative Premierminister seit Jahrzehnten sein werde, enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit.
Noch immer haben die regelmäßigen Skandale des britischen Establishments und die immer offenkundigere Reformbedürftigkeit des britischen Systems keinen politischen Ausdruck gefunden. Es hätte vermutlich einen Redwood-Putsch bei den Tories und damit einen dem Gingrich-Triumph bei den US-Kongreßwahlen von 1994 vergleichbaren Schock gebraucht, um in Großbritannien eine innenpolitische Debatte entstehen zu lassen. Daß dann spätestens bei den nächsten Wahlen die überwiegende Mehrheit der britischen Bevölkerung den Neuen Rechten eine Absage erteilt hätte, liegt auf der Hand.
Nun hat die konservative Angst vor der Wahlniederlage einen Premierminister im Amt bestätigt, der Ideen einzig in solchen Bereichen wie Europa produziert, die die Briten am wenigsten interessieren. Verlieren können die Tories bei den kommenden Parlamentswahlen sowieso. Aber sie werden unter Major wenigstens unspektakulär untergehen und mit Blair einen unspektakulären Nachfolger erhalten. Dominic Johnson, Cambridge
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