Eine Reise zum Gletscher: Mit Poesie im Gepäck
Unsere Autorin forscht zu Gletscherlyrik. Sie reist zum norwegischen Jostedalsbreen, um den Eisriesen kennenzulernen – und um Abschied zu nehmen.
D er Gletscher ist ein Fluss aus Eis. Alles an ihm ist immerzu in Bewegung, obgleich man das mit bloßem Auge selten sieht. Der Körper des Gletschers schmilzt und gefriert und schmilzt erneut, walzt talabwärts, erodiert, bildet neue Vermächtnisse. Das Schmelzwasser speist die Flüsse; das Steinmehl, das der Gletscher beim Schürfen auf dem Grundgestein produziert, düngt die Ufer. Staub, Kies und Geröll sammeln und schieben sich stromabwärts, bilden neues Land. Energie verwandelt sich, leise oder laut, und wieder und wieder neu. Gletscher versetzen buchstäblich Berge.
Ich möchte nach Jostedal in Westnorwegen fahren, um den größten Festlandgletscher Europas zu erkunden. Solange es ihn noch gibt und mein Körper mich hinaufträgt. Im Vergleich zum 7.000 Jahre alten Jostedalsbreen bin ich mit meinen 34 Jahren jung. Aber der Gletscher schmilzt rasant, und Zehntausende Eisriesen weltweit tun es ihm nach. Fast die Hälfte der Gletscher wird bis 2100 verschwunden sein, selbst wenn wir die Klimaerwärmung drastisch bremsen, hat eine gerade veröffentlichte Studie ergeben. Und nach einer Verlangsamung der Erderwärmung sieht es momentan nicht aus.
Nach Norwegen will ich auch deshalb reisen, um einem Gefühl auf die Spur zu kommen, das als Erwachsene kaum mehr Teil meines Lebens ist: Staunen.
Es wird mein erstes Mal auf einem Gletscher sein. Das ist schon darum komisch, weil Gletscher meinen Alltag bestimmen. Bücher über Gletscher und ihnen gewidmete Gedichtbände füllen türkis-blaue Regalmeter meines Büros. Ich bin freie Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg, ich schreibe eine Arbeit zu Gletschern in zeitgenössischer nordamerikanischer Dichtung. Je weniger Gletscher es gibt, desto mehr Gedichtbände scheinen ihnen gewidmet zu sein, darum geht mir die Arbeit nicht aus.
Selbst habe ich jedoch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, auf Hunderte Meter dickem Eis zu stehen oder diesen besonderen Wind im Gesicht zu spüren, der über den Gletscher streichen soll. Das will ich ändern.
Auf meine Reise nehme ich Gedichte mit, die von Gletschern handeln; von ihrer Grausamkeit und Schönheit, ihrem Vergehen. Niemand hat ehrfürchtiger über Gletscher geschrieben als der Brite Percy Shelley. In seinem Gedicht „Mont Blanc“von 1816 setzt er dem Berg in den französischen Alpen und den ihn umgebenden Gletschern ein Denkmal.
Of frozen floods, unfathomable deeps, / Blue as the overhanging heaven, that spread / And wind among the accumulated steeps; / A desert peopled by the storms alone
Und voll gefror’ner Fluten, unfasslich / Blau wie der Himmelsüberhang, der fällt / Und sich um steile Wände schiebt, abgründig. / Ein wildes Land, vom Sturm allein bewohnt
Shelley nennt die Gletscher auch „fließendes Zerstören, das sich in Ewigkeit wälzt“. Auf den Menschen, der in seinem kleinen Leben kaum je eine Ahnung des Sublimen, Ewigen erhascht, schaut Shelley mitleidig. „Seine Bemühungen vergeh’n als Hauch“.
Mein liebstes zeitgenössisches Gletschergedicht ist Craig Santos Perez’ „Thirteen Ways of Looking at a Glacier“ aus dem Jahr 2020. Der indigene US-amerikanische Dichter dreht und wendet den Gletscher, betrachtet ihn von allen Seiten, bis er ihm am Ende in der warmen Hand zerrinnt.
Humans and animals / are kin. / Humans and animals and glaciers / are kin
Menschen und Tiere / sind verwandt. / Menschen und Tiere und Gletscher / sind verwandt
Diese Verwandtschaft möchte ich erkunden. Außer den Gedichten kommt noch Raphael mit auf die Reise nach Westnorwegen, ein Freund und Fotograf. Rapha ist Schwede und lebt in Oslo. Wir kennen uns von der Arbeit auf einer Farm in der Nähe von Norwegens Hauptstadt. Mit seinem blonden Pferdeschwanz, dem Bart und der Outdoorhose mit zahllosen Taschen sieht Rapha aus wie ein Fjællräven-Katalog-Model, nur etwas zotteliger. Er hat ein Faible für Rituale, und so machen wir auf der Fahrt zum Gletscher Rast und prosten mit einem Kaffee vom Spirituskocher unserem Gletscherabenteuer entgegen. Skål.
Unser Gefährt ist ein blauer Sprinter, den ich von einem Freund geliehen habe. Auf engen Talstraßen westwärts rutschen vorne auf der Ablage meine Gletscherbücher hin und her. Abends, kurz vor unserem Ziel, dem kleinen Ort Fjærland, schlafen wir in unserem unausgebauten Sprinter. Es riecht nach Diesel und Schrottplatz. Wir liegen auf dünnen Isomatten und fragen uns, ob wir nicht in einem Alter sind, in dem man sich mehr Komfort gönnen sollte.
Gletscher faszinieren Menschen seit Jahrhunderten. Spätestens in der Romantik gab es in Europa einen regelrechten Run aufs Eis. Aus ganz Europa brachen in den 1840er und 1850er Jahren wohlhabende Schichten zu den alpinen Gletschern auf; in die Schweiz, nach Italien und Frankreich. Unter ihnen waren Künstler und Schriftsteller:innen wie John Ruskin, Goethe, Mark Twain, Samuel Coleridge sowie Percy und Mary Shelley.
Mit Reifröcken, Spazierstöcken und ungeeignetem Schuhwerk schlitterten die Tourist:innen über das Eis und verbrannten sich jeden Zentimeter Haut, der nicht von Stoff bedeckt war; das Innere der Nasenflügel etwa und die Unterseite der Augenlider. Wer es heil zurück ins Hotel schaffte, spann in der Wärme des Kaminfeuers eisige Gruselgeschichten. Eine der damals verbreiteten Gänsehaut-Theorien war die Rückkehr einer baldigen Eiszeit. Von wissenschaftlichen Größen wie dem britischen Physiker Lord Kelvin verbreitet, wurde sie von Dichter:innen bereitwillig aufgenommen.
Neben Shelley widmeten sich auch andere Romantiker:innen dem „ewigen Eis“, etwa Lord Byron, William Wordsworth und Adalbert Stifter. Angsteinflößend und unheimlich kommen die literarischen Gletscher in dieser Zeit daher.
The glaciers creep / Like snakes that watch their prey
Die Gletscher schwingen / Sich wie auf Raubzug sei’nde Schlangen ein
heißt es bei Shelley. Auch Friederike Brun betrachtet 1791 mit Unwohlsein die „Zackenströme“, die mit „Donnergetös“ aus „des ewigen Winters Reich“ herabgeschossen kommen. Oft über Nacht wälzen sich die Gletscher der Gedichte ins Tal und begraben ganze Dörfer unter sich. Unvorstellbar heute, dass Menschen sich einst so vor Gletschern fürchteten.
Literatur hält ihrer Zeit stets den Spiegel vor, und wie sehr sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den letzten 200 Jahren verändert hat, lässt sich anhand der Gedichte beobachten. Von um sich greifenden Ungeheuern sind die Gletscher zu einem aussterbenden Tier geworden. „Maybe the ice is starving“ – „Vielleicht ist das Eis am Verhungern“, schreibt die indigene Dichterin Vivian Faith Prescott aus Alaska in „Die-Off“. Unter großen Anstrengungen decken heute Forscher:innen einige wenige Gletscher im Sommer mit Vlies zu, riesigen weißen Stoffbahnen, die das Eis vor der UV-Strahlung schützen sollen. Ein Vorhaben, das beinahe zärtlich wirkt – und hilflos. Den Rest der immer schneller schmelzenden Eismassen müssen sie sich selbst überlassen. Wer heute zu den Gletschern reist, macht deshalb auch eine Art Kondolenzbesuch.
Bevor wir den echten Gletscher besuchen, gehen wir ins Gletschermuseum. Es dient als Ausgangspunkt für Wanderungen, im Shop werden aus Holz gefertigte Wandertassen, Pullis mit Norwegen-Flagge und Elch-Magnete für den Kühlschrank verkauft.
Pål Hage Kielland arbeitet als Geograf im Museum. Er empfängt uns am Eingang vor einem Miniaturgletscher. Schwarzer Granitstein ist wie ein Tal ausgeschliffen, ganz oben thront ein Eisblock, dem man beim Schmelzen zusehen kann. „Das Eis wird von Bauern mit dem Traktor zu uns ins Museum gebracht“, erzählt Kielland. „Sie finden die Gletscherabbrüche auf ihren Feldern, unser Hausmeister muss sie dann mit der Kettensäge bearbeiten.“ Es sieht eher nach Kunst aus als nach einem wissenschaftlichen Modell. Was gut zur Ästhetik hier passt, das Museum wurde von dem norwegischen Stararchitekten Sverre Fehn gebaut.
Der Jostedalsbreen (dal bedeutet Tal, breen heißt Gletscher) liegt auf einem Hochplateau im Westen Norwegens, in der Nähe des berühmten Sognefjords. Seine Größe lässt sich unten im Tal nur erahnen. Wäre man ein Vogel, ein Goldadler oder Seeadler zum Beispiel, die in dieser Gegend zu Hause sind, könnte man über ein gigantisches Eismeer gleiten, 474 Quadratkilometer groß. Bis zu einem halben Kilometer türmt sich das Eis an der dicksten Stelle auf, das sind 7.000 Jahre lang Schneefall, zusammengepresst zu Eis.
Menschen lernen den Jostedalsbreen durch seine zahllosen Arme kennen, die er in alle Himmelsrichtungen in die Täler ausstreckt, ein feucht-kalter Händedruck. Austerdalsbreen, Bøyabreen, Supphellebreen heißen sie, oder Nigardsbreen, Erdalsbreen, Brenndalsbreen. Im Vergleich zu Gletschern auf Island, Grönland oder Spitzbergen ist der Jostedalsbreen jung und nicht mal sonderlich groß. Doch allein während der Kleinen Eiszeit zwischen 1740 und 1860 wuchs er vier Kilometer an. Die Temperatur war in der Region durchschnittlich lediglich um 1 Grad niedriger als heute. Katastrophale Ernteausfälle und Hungersnot waren die Folge.
Kielland sagt, eine wichtige Aufgabe des Museums sei es, den Gletscher sinnlich erfahrbar zu machen. Darum gibt es hier ein Kino mit einem Panoramafilm, mithilfe dessen man den Gletscher mit einer Drohne überfliegen kann. Ohrenbetäubende Musik, spektakuläre Aufnahmen – der Film setzt ganz auf Überwältigung und offene Münder. Gar nicht unähnlich dem, wie die Romantiker:innen die Gletscher wahrnahmen.
Schon um 1870 kamen die ersten Tourist:innen aus Deutschland und Großbritannien mit dem Schiff nach Fjærland. Man baute ein Hotel, die Bauern fuhren die Herrschaften dann zu den Gletscherarmen. Zum Gletscher war es, anders als heute, nur eine kurze Kutschfahrt. Gut verdientes Geld für die Bauern der Region. Schon damals hatten eine findige Hotelbesitzerin und ihr Bruder, ein Glaziologe, die Idee, ein Gletschermuseum zu bauen.
Der Film ist zu Ende, etwas bedröppelt stehen wir neben einem ausgestopften Eisbären. Nach dem ganzen Panorama-Pomp haben wir genug von Gletschermodellen und Gletscherfilmen. Wir wollen endlich das Original bestaunen.
Weit hinten im Tal beginnt der Nigardsbreen, ein Ausläufer des Jostedalsbreen. Man kann ihn vom Museum aus sehen und ohne langen Zustieg erreichen. Entsprechend viele Besucher:innen sind gekommen. Auf dem Parkplatz am Museum zählen wir mehr als zwanzig Camper-Vans mit deutschen Nummernschildern.
Gemeinsam mit vielen anderen gehen wir über das Steinmeer, durch die „Geister der Gletscher“, wie es bei der amerikanischen Dichterin Elizabeth Bishop heißt. Das steinerne Gletscherbett, auf dem der Gletscher einmal lag, ist sanft gewellt, alles ist rund und abgeschliffen, nirgends gibt es Ecken oder Kanten. Man möchte sich gern hineinlegen in eine dieser ausgeschliffenen Kuhlen, die der Gletscher nach seinem Rückzug hinterlassen hat.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es beginnt zu regnen und wir gehen weiter, über glitschige Steine. Je näher wir der Abbruchkante kommen, desto lauter tost der Fluss, der Schmelzwasser ins Tal bringt, eine rasende Wasserwalze. Wir überqueren massive Stahlbrücken, die der Fluss zum Vibrieren bringt. Ganz oben stehen wir endlich an der Absperrung. Hier geht es nicht weiter, ohne Steigeisen und Guide. Ich möchte so gerne hinauf auf das Eis, es berühren, still stehen auf Hunderten Metern Eis. Doch bis es so weit ist, müssen wir uns noch gedulden. Also mache ich wie alle anderen Tourist:innen Fotos mit dem Handy, von denen ich weiß, ich werde sie wieder löschen. 1, 2, 3, Cheeeese.
In den Nachrichten, aber auch in der Literatur und Kunst sind die Gletscher längst zur Metapher für die Klimakrise geworden, wie der Eisbär auf dem viel zu kleinen Eisfloß. Ein Symbol, eine Abkürzung. Fünf Millionen Menschen haben dem Pianisten Ludovico Einaudi dabei zugesehen, wie er vor kalbenden Eismassen im Polarmeer Piano spielt, seine „Elegy for the Arctic“, im Auftrag von Greenpeace.
Das damit verbundene Phänomen ist ein Endzeittourismus, der die Probleme nur verstärkt. Je mehr Menschen in die Arktis reisen, um ihren Kindern ein letztes Mal Eisbären in freier Natur zu zeigen, ein vielleicht letztes Mal auf stabilem Packeis zu wandern, ein letztes Mal Gletscherzungen hinaufzuklettern, desto mehr CO2 wird in die Atmosphäre gepumpt, desto schneller verschwindet das Eis. Auch wenn ich mit Bus und Bahn nach Norwegen gereist bin, hätte ich, so gesehen, besser zu Hause bleiben und weiter meine Gletschergedichte studieren sollen.
Am nächsten Morgen treffen wir unseren Guide. Gaute (ich nenne ihn heimlich Mountain-Gaute wegen der phonetischen Nähe zu mountain goat, Bergziege) ist um die 30, das Gesicht von UV-Strahlen etwas versengt und kompakt gebaut. Beim Aufstieg erzählt er, Norwegens Königin Sonja sei schuld an seiner Berufswahl. „Einmal habe ich sie getroffen, als sie gerade von einem Gletscher zurück ins Tal wanderte. Sie konnte nicht glauben, dass ich noch nie auf einem Gletscher war, obwohl ich doch hier aufgewachsen bin.“ Da habe er sich gedacht: „Wenn die Königin auf Gletschern wandert, muss ich das auch tun.“ So geht die Legende von Gaute, und nur er weiß, wie viel davon der Wahrheit entspricht. Dass die Königsfamilie in Norwegen ziemlich volksnah unterwegs ist und Sonja gerne wandert, spricht für seine Geschichte.
Der Aufstieg zum Gletscherarm erfolgt auf engen, matschigen Wegen. Der Sommer endet hier im August, es hat viel geregnet, gut für den Gletscher, schlecht für uns. Über wackelige Brücken, umgefallene Baumstümpfe oder an Seilen überqueren wir Bäche, die zu Flüssen angestiegen sind, dabei schwanken und rutschen wir unter der Last unserer Rucksäcke. Nach zwei Stunden erreichen wir die Gletscherzunge des Haugabreen. Die Abbruchkante ist aus der Nähe betrachtet viel höher, als ich dachte. Sanft steigt der Gletscher an und sieht mit seinen faltigen Spalten aus wie ein zerwühltes Bett.
Ganz oben am Berg geht das Eis in Nebel über. Wir stülpen uns Steigeisen mit stählernen Spikes an den Sohlen über, ziehen Helme auf, seilen uns an. Gaute verteilt Eisäxte, ich begutachte das ungewohnte Werkzeug. Wenigstens kleidungstechnisch sind wir besser ausgerüstet als die Tourist:innen im Eis und Schnee der Romantik.
Uns angeschlossen hat sich eine vierköpfige Familie aus Berlin, die auf dem Rückweg aus Nordnorwegen ist. Dieses Jahr hätten sie das Thema Gletscher für sich entdeckt, erzählen sie, während wir lernen, am Seil zu gehen, ohne übereinander zu stolpern. Die ersten Schritte auf dem Gletscher sind ungewohnt, ich traue den scharfen Zähnen unter meinen Schuhen nicht, kann nicht glauben, dass ich mit ihnen auf dem Eis gehen kann. Doch, kann ich. Ich drehe mich zu meinem Freund Rapha um, er zieht sein Bergsteigergrinsen und macht ein paar Tanzschritte. „Wie Stilettos auf dem Eis“.
Schweigend schiebt sich unsere kleine Karawane den Gletscher hinauf, verbunden durch das Seil. Mit jedem Schritt beißen unsere Steigeisen rhythmisch ins Eis. Die Stimmung ist andächtig. Jetzt bin ich endlich hier, denke ich und versuche alles um mich herum gleichzeitig wahrzunehmen. Die Mondlandschaft, den kalten Wind, meinen schweren Atem beim Aufstieg.
Oben angelangt, will ich mir Notizen machen. Stattdessen sitze ich einfach nur auf dem Eis, während mein Hintern langsam nass wird, und schaue über das Eismeer. Gaute reicht mir ein Dosenbier. Etwas hindert mich daran, mir hochtrabende Gedanken zu machen über diese Erfahrung, während sie passiert. Das Übel aller Autor:innen, dass sie noch inmitten des Erlebens schon einen Schritt zurücktreten und abstrahieren wollen. Der Gletscher will nicht, dass ich das tue. Ich sitze und schaue.
Beim Abstieg stürze ich, genau dann, als ich meine Steigeisen ausgezogen habe und die ersten Schritte zurück auf sicherem Untergrund tue. Genau dann, als Rapha und ich wieder zu zweit und auf uns allein gestellt sind. Ich stürze und sehe den Gletscher in Zeitlupe und dazu Raphas erschrockenes Gesicht, bevor ich mit der Wange auf einen Stein krache. Abends liege ich im Zelt, mir ist elendig kalt. Mit der rechten Hand habe ich noch versucht, mich abzustützen, nun ist sie geschwollen und nutzlos. Mein Wanderfreund ist besorgt, dass ich eine Gehirnerschütterung habe, weil ich mich an nichts erinnern kann.
Ich versuche mit der linken Hand in mein Notizbuch zu schreiben, habe Angst, alles zu vergessen, habe Angst, im Schlaf zu sterben. Kann das nicht passieren bei Gehirnerschütterungen? Rapha zündet seine Pfeife an. Er schlägt vor, den Sturz als Initiationsritus zu sehen. Der Berg habe mich umarmt.
Gut, dass ich liege, denn mein Körper fühlt sich an wie Pudding. Auf meinem Oberschenkel wächst eine gigantische Blessur. Die Mitte ist leer, während außen herum versprengte grüne, gelbe, blaue und violette Muster auftreten. Die Maserung des Steins hat feine Linien auf der Haut hinterlassen.
Mein Kopf will nicht funktionieren. Ich denke an Patti Smith, die nach Paris gefahren ist, um über ihr Vorbild, den Dichter Arthur Rimbaud, zu schreiben, und vor lauter Ehrfurcht genau eine Zeile zu Papier brachte: irgendetwas von Blumen und Sternen am Grab ihres Helden in Charleville. Vielleicht habe ich auch zu viel Ehrfurcht vor dem Gletscher? Oder doch eine Gehirnerschütterung? Warum bin ich noch mal nach Norwegen gekommen, habe ich Rapha gefragt. Na des Gletschers wegen, weißt du das nicht mehr?
Am nächsten Morgen sitze ich alleine in der Nähe des Gletschers, in respektvoller Entfernung. Mein ganzer Körper schmerzt, aber wenigstens weiß ich wieder, warum wir hier sind. Dass der Gletscher ein Archiv ist, beschäftigt mich. Zwischen den Eismolekülen sitzen winzig klein und mit zunehmenden Tiefenmetern immer stärker zusammengepresste Luftbläschen, die von Temperatur, Pollenflug und Co2-Gehalt in der Atmosphäre erzählen. Von einem Holozän-Sommer, Abertausende von Jahren her, von Vulkanausbrüchen und vergangenen Atmosphären. Ich schaue mir die Eisschichten in Grau-, Weiß- und Blauschattierungen an und versuche sie mir vorzustellen wie ein gigantisches Bücherregal, eine Weltbibliothek wie in Alexandria.
Was passiert, wenn das Archiv verschwindet, wie meine Erinnerung gestern? Während die nach und nach zurückkehrt, wird das Gletscherarchiv für immer verloren sein.
Der Dichter Craig Santos Perez schreibt:
Among starving polar bears, / the only moving thing / was the edge of a glacier.
We are of one ecology / like a planet / in which there were once 200.000 glaciers.
Inmitten von hungernden Eisbären / war das einzig sich bewegende Ding / der Rand eines Gletschers.
Wir sind geschaffen aus einer Umwelt / gleich einem Planeten / auf dem einst 200.000 Gletscher lebten.
-
Anne-Sophie Balzer, 34, ist freie Journalistin, Literaturwissenschaftlerin und Dichterin. 2020 ging sie für anderthalb Jahre nach Norwegen und arbeitete auf Bauernhöfen. Die Reportage ist im Rahmen eines Stipendiums der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) entstanden.
Übersetzung der zeitgenössischen Gedichte: Anne-Sophie Balzer; Übersetzung „Mont Blanc“ von Percy Shelley: Julius Seybt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation