Eine Portion Extra

■ Nicolas Hrudnik kam mit einer Idee, sah, siegte – heutzutage nennt man sowas Wunder. Über Geburt und Wachstum einer Konzertreihe namens „musica viva“

Henning Scherf beschwört den „Aufschwung“ wie ein opiumgeschwängerter Massenhypnotiseur. Doch nirgends läßt er sich blicken, der Schwung. Nirgends? Nein, ein kleines Dorf in Gallien ... Und dann gibt es da noch die „musica viva“-Konzerte unter der Leitung von Nicolas Hrudnik. Seit vier Jahren finden sie sechs Mal pro Saison statt – erst in der Waldorfschule, jetzt im großen Saal der Glocke – und verzeichnen Zuwachszahlen wie sonst nur die Aktienkurse von halbseidenen Internetfirmen am Neuen Markt.

Schon 1998 brauchte ein zum Konzertgang gewillter Bremer drei Tage vor dem Konzert gar nicht mehr anrufen, um nach Karten zu fragen: ausverkauft. Kein Wunder, hatte man da doch schon 800 Abonnenten (das ist größenordnungsmäßig dieselbe Liga wie die Kammerphilharmonie und das Philharmonische Orchester). Jetzt sind es 1.200. Deshalb wird seit neustem Schicht gearbeitet: zum Konzert um 15.30 Uhr kommt ein zweites um 19.30 Uhr dazu. Statt mit Majestixs Zaubertrank arbeiten Hrudnik und sein Chor und Orchester mit folgendem Erfolgsrezept: Auf dem Programm stehen die Renner der klassischen Musik, wie sie auch auf privaten Klassikradiosendern in der Dauerschleife rotieren. Eine Auswahl, die bei Hrudnik keineswegs die Bauchschmerzen eines faulen Kompromisses verursachen; schließlich hegt er selbst eine tiefe Liebe zu den Schlagern der E-Musik. „Muss ja was dran sein, an deren Erfolg.“

Und dann ist da noch die Uhrzeit, 15.30 Uhr. Da strömen auch jene älteren Herrschaften herbei, die abends auf ihren „Tatort“ und „Wetten dass“ nicht verzichten wollen. Zielpublikum ist also nicht nur der intime Kenner klassischer Musik, sondern auch der Nachbar von nebenan. Und ganz besonders DIE Nachbarin. Denn Hrudnik hat den Schwiegersohn-Charme eines Günther Jauch. Wo wir doch schon mal in sowas wie einer Demokratie leben, sollten auch jene Menschen Recht auf Kultur haben, die der normale Konzertzirkus übergeht, Recht auf ihre Kultur. Und die heißt eben: „Die Moldau“, Tschaikowski-Klavierkonzert oder „Die Höhepunkte aus ,Die lustige Witwe'“.

Freuen tut sich Hrudnik aber schon, dass bei den neuen 19.30-Uhr-Vorstellungen das Publikum altersmäßig sehr viel gemischter ist. Und auch in den Reaktionen des Publikums entdeckt Hrudnik einen Unterschied. Kam eine Tanz-Dreingabe zu Ravels „Bolero“ durch die Tanz-Company von Gitta Barthel am Nachmittag nicht bei allen gut an, erntete sie abends euphorische Beifallsstürme.

Der ganz und gar unwahrscheinliche Erfolg der Konzertreihe ist natürlich nur vorstellbar durch eine beachtliche Qualität. Als Solisten fungieren die Sänger vom Bremer Theater oder vergleichbare Kräfte von auswärts. Die Musiker haben alle ein Musikstudium hinter sich. Der größte Teil kommt aus der Bremer Klassikszene und einige aus Hamburg und Hannover. Hrudnik selbst hat in Hamburg studiert, Schulmusik, aber mit der Zeit nahmen Schlagzeug und Dirigieren einen immer breiteren Raum im Studium ein. In den letzten vier Jahren wuchsen seine Fähigkeiten zusammen mit Zuschauerzahlen und Orchesterqualität. Vor allem aber wuchs man zusammen und hat nun einen Standard überdurchschnittler Mucke-Qualität. Da gab es doch einst Defizite. „Im letzten Konzert haben wir ein Stück unseres allerersten Konzerts wiederholt: Ein Akt der Wiedergutmachung, um zu zeigen, wie es sich ,richtig' anhört.“

Alles Paletti aber ist alles noch längst nicht. Bei 11.000 Mark Saalmiete pro Tag sollten noch Abonnenten dazukommen, damit die Löhne für Musiker und Solisten erträglich ausfallen. Auch ein biss-chen mehr Proben sollte man sich leisten können. Derzeitiger Stand: zweieinhalb Powertage. Und irgendwann möchte Hrudnik seinem Publikum auch das eine oder andere Avantgardestückchen näher bringen. Insgeheim aber graust es ihm vor reibungslosen Abläufen. Denn bislang war musica viva für ihn ein großes Abenteuer. Alles musste gelernt werden, Plakatemachen, Marketing, Abonnentenbetreuung, Buchhaltung. Wer weiß, ob später diese ganz spezielle Energie der Begeisterung in den Konzerten noch zu halten ist.

Dirigieren will er aber weiter. Aber was macht eigentlich einen guten Dirigenten aus? „Drei Dinge: Musikalisches Verständnis, Genauigkeit und Vermittlungskompetenz bei den Proben und dann Strahlkraft im Konzert. In den Konzerten muss eine ganz eigene Spannung entstehen, ohne die Musik nicht zu atmen beginnt. Schlimm ist es, wenn ein Dirigent exzellente Probenarbeit leistet, aber im Konzert die Präsenz fehlt.“ Diese Präsenz spürt sogar Hrudniks neunjähriger Sohn. Nach den Konzerten ist er immer ein wenig eifersüchtig auf Papas Musik und fordert eine Portion Extra an Streicheleinheiten. bk

Am 6. Februar um 15.30 und 19.30 Uhr sind „Höhepunkte“ aus Verdis Rigoletto zu hören. Titel der beiden Konzerte am 19. März: „Mozart oder Puccini. Das ist die Frage“. Karten unter 35 36 37. Infos, Abos und CD unterTel.: 498 75 35